Putin hat sie zwar mit seinem Feldzug gegen Tschetschenien aus ihrer Heimat vertrieben, aber er hat ihr die Freude an den Olympischen Spielen in Sotschi nicht ganz vergällt: Zaynap Gaschaewa, tschetschenische Menschenrechtlerin.
«Ich bin froh, dass ich nicht im Grab bin», wird Zaynap Gaschaewa beim Abschied sagen. Es ist nach einem langen Gespräch, sie hat manchmal fast geweint, oft auch gelacht, und sie hat köstliche Bliny (Omeletten) gemacht und Tee aufgestellt. Tschetschenen pflegen wie generell die Kaukasusvölker eine fürstliche Gastlichkeit. Dies gilt auch, wenn sie in der Fremde sind, wie Zaynap Gaschewa, die mit ihrer Familie in einem ehemaligen Berner Arbeiterquartier in einer kleinen Wohnung lebt.
Fast ins Grab gebracht hat die Frau, die trotz ihrer 60 Jahre erstaunlich jugendlich wirkt, nicht der Krieg in Tschetschenien, sondern was nachher folgte, als der Krieg 2009 endlich für beendet erklärt worden war. «Ich habe zwar 20 Jahre für den Frieden gekämpft. Die Art von Frieden, zu der es in Tschetschenien schliesslich kam, war aber nicht für mich bestimmt», sagt Gaschaewa, während wir an ihrem Wohnzimmertisch sitzen. Möbel, Teppich und die ganze Einrichtung sind in Schwarz und Weiss gehalten, nur eine rote Kerze von Amnesty International hebt sich davon ab.
Mit dem Tod bedroht
Gaschaewa wurde in ihrer Heimat vom russischen und tschetschenischen Geheimdienst verfolgt, anonym mit dem Tod bedroht, zu Verhören vorgeladen. «Du bist eine Spionin», sagte man der langjährigen Menschenrechtskämpferin. Also verliess sie im August 2010 schweren Herzens Tschetschenien und flüchtete in die Schweiz. Sie erhielt Asyl, und da lebt sie nun mit ihrem Mann und teilweise mit ihren erwachsenen Söhnen und der Tochter.
Für enge Vertraute von Gaschaewa hatte das Schicksal eine ungleich unheilvollere Wendung genommen. Die berühmte russische Journalistin Anna Politkowskaja, die mit Gaschaewa kreuz und quer durch Tschetschenien reiste, wurde 2006 in Moskau erschossen. Der Mord sorgte weltweit für Schlagzeilen und ist auch heute noch nicht aufgeklärt. Auch die russische Menschenrechtlerin Natalia Estemirowa musste sterben.
Während Politkowskajas «Verbrechen» darin bestand, die Gräuel des Kriegs in Zeitungsartikeln und Reportagen zu beschreiben, war es Gaschaewas Delikt, Video- und Tonaufnahmen von Zeitzeugen zu sammeln sowie Fotografien, die sie zunächst versteckte und später ausser Landes brachte. «Die russische Führung versucht, die Erinnerung an den Krieg zu tilgen.» Dem wollte sie etwas entgegensetzen: «Unser Material spricht von selbst», sagt Gaschaewa. Der Krieg um Tschetschenien war der blutigste Konflikt nach dem Zerfall der Sowjetunion – rund 3000 Personen gelten noch als verschollen.
Gaschaewa schwärmt für die Vereinigung von Kunst und Sport im Eiskunstlauf.
Nun werden also in Sotschi, rund vierhundert Kilometer westlich von Tschetschenien, wo es ab und zu immer noch Anschläge gibt, die olympischen Spiele stattfinden. Was hält sie davon? Wer nun erwartet, dass die Frau die Spiele in Bausch und Bogen verdammen würde, hat sich getäuscht: Zwar kritisiert sie, dass Präsident Putin die Grossveranstaltung für sich instrumentalisiere. Zwar bangt sie um Zuschauer und Athleten, dass trotz des immensen Aufgebots der Armee und Polizei eine Bombe hochgehen könnte. Zwar nennt sie den Olympia-Boykott von François Hollande und Joachim Gauck ein Zeichen, dass in Russland nicht alles zum Besten stehe.
Sie selbst will die Spiele aber nicht ignorieren: «Natürlich werden wir die Wettkämpfe verfolgen», sagt sie auf eine entsprechende Frage leicht empört und zeigt auf den grossen Flachbildschirm im Wohnzimmer. Sie hat sich schon immer für Sport interessiert, ihre Lieblingsdisziplin ist Eiskunstlauf. Die Vereinigung von Kunst und Sport sei doch einfach wunderbar, schwärmt Gaschaewa.
Ob sie denn mit den russischen Sportlern mitfiebere, wollen wir wissen. «Ich bin für die guten Sportler», sagt Gaschaewa und lacht. «Ich denke, die Nationalität sollte beim Sport nicht so wichtig sein.» Ob auch auch tschetschenische Athleten in Sotschi teilnehmen werden, wisse sie nicht: « Wintersport ist in Tschetschenien nicht sehr verbreitet. Populär ist aber der Ringkampf.»
Liebe zur russischen Kultur
Gaschaewa erinnert sich gut an die olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau, als sich die Sowjetunion und die USA noch bedrohten, mit Atomraketen gleich mehrfach zu vernichten. Damals lebte sie in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, und sie verfolgte die Schlusszeremonie im Fernsehen. «Als das Maskottchen, ein Bärchen, abtrat, mussten wir alle weinen». Es war ein Gefühl der Rührung. Viele Jahre später brachte der russische Bär die Tschetschenen wieder zum Weinen – aber diesmal aus Verzweiflung.
Gaschaewa liebt die russische Kultur, pflegt Umgang mit Russen und Tschetschenen. Nach Russland zurück kann sie zumindest im Augenblick jedoch nicht – noch sitzt ihr die Angst im Nacken. Gerade erhielt ihr jüngster Sohn Mohamed den zweiten negativen Asylentscheid, nun fürchtet sie, dass er bald ausgeschafft wird. Über Internet hat sie Kontakte mit Menschenrechtlerinnen von Omsk über Moskau bis nach Grosny und ist über die aktuelle Lage in Russland gut informiert.
Die tschetschenische Hauptstadt, die im Krieg zu 90 Prozent zerstört wurde, ist inzwischen wieder aufgebaut. Die Schulen funktionieren, die Kindergärten auch, aber es gibt eine immense Arbeitslosigkeit. Beim Wiederaufbau in Tschetschenien verschwanden Millionen in den Taschen korrupter Funktionäre und Unternehmer.
In Bern war Gaschaewa Projektleiterin für den Aufbau eines Tschetschenien-Archivs.
Die Organisation «Echo des Kriegs», die Gaschaewa in Tschetschenien gegründet hatte, existiert noch. Nichtstaatliche Organisationen sind in Russland aber stark unter Druck und auch Ausländer vor Verhaftung nicht gefeit, wie das Beispiel Greenpeace kürzlich zeigte. «Es ist schwierig, ja fast unmöglich, unabhängig zu arbeiten.» Gaschaewa hat ihr Material über den Krieg nach und nach der Gesellschaft für bedrohte Völker in Bern übergeben. Dort war sie Projektleiterin für den Aufbau eines Tschetschenien-Archivs.
Das Archiv ist ihre Lebensaufgabe, sie hofft, dass die Opfer später einmal Gerechtigkeit erfahren werden. Unter Wladimir Putin, der zu Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 Premierminister wurde und auch infolge des rücksichtslosen militärischen Vorgehens im nördlichen Kaukasus zum Präsidenten aufstieg, ist dies wohl undenkbar. «Aber man muss sich darauf vorbereiten», sagt Gaschaewa. Sie räumt ein, dass auch viele unschuldige russische Soldaten in Tschetschenien ums Leben kamen. «Die tschetschenische Seite machte auch Fehler.» Schwarz-Weiss-Denken ist Gaschaewa fremd, ungeachtet der Farben ihres Wohnzimmers. Und obschon sie allen Grund dazu hätte.
Tschetschenien liegt im nördlichen Kaukasus und gehört zur Russischen Föderation. Der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte. 1944 liess Stalin die Tschetschenen – ein Volk mit eigener Sprache – nach Kasachstan in Zentralasien deportieren. Sie hätten mit den Deutschen kollaboriert, lautete der Vorwurf. Zaynap Gaschaewa kam deshalb 1953 in Kasachstan zur Welt. Erst unter Nikita Chruschtschow durften die Tschetschenen 1956 in den Kaukasus zurück.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erklärte sich das (muslimische) Tschetschenien für unabhängig. Russland liess die Teilrepublik zunächst gewähren. 1994 bis 1996 kam es aber zu einem Krieg zwischen der russischen Zentralgewalt und Tschetschenien. Es folgten ein Friedensabkommen und eine Zeit der faktischen Unabhängigkeit.
1999 intervenierten erneut russische Truppen, der zweite Tschetschenienkrieg dauerte bis 2009. Heute hat sich die Gewalt hauptsächlich in die russischen Teilrepubliken Dagestan und Kabardino-Balkarien verlagert. Die Olympiastadt Sotschi liegt an den westlichen Ausläufern des Kaukasus’.