Zwischen Selbstbestimmungsrecht und Gebietsgarantie

Unter welchen Bedingungen können in der Schweiz so genannte Gebietsveränderungen stattfinden? Das ist keine nur theoretische Frage, das Problem hat sich im Rahmen des jurassischen Selbstbestimmungsprozesses bereits mehrfach gestellt und wird sich in nächster Zeit wieder stellen.

Francois Lachat, jurassischer Minister der ersten Stunde, hält am 24. September 1978 in Delemont eine Rede zur Feier der Gründung des Kantons Jura, nachdem das Resultat der eidgenössischen Abstimmung bekanntgegeben wurde. (Bild: keystone)

Unter welchen Bedingungen können in der Schweiz so genannte Gebietsveränderungen stattfinden? Das ist keine nur theoretische Frage, das Problem hat sich im Rahmen des jurassischen Selbstbestimmungsprozesses bereits mehrfach gestellt und wird sich in nächster Zeit wieder stellen.

Mit Gebietsveränderungen sind Zugehörigkeitsveränderungen gemeint, die sich aus dem Wunsch ergeben, dass Gemeinden von einem Kanton in einen anderen wechseln möchten. Diese nicht alltägliche Frage wird in der Bundesverfassung geregelt. Eine wichtige, aber unterschätzte Funktion der Verfassung besteht darin, den vorliegenden territorialen Bestand der Kantone zu schützen und auch in dieser Hinsicht dafür zu sorgen, dass der innere Friede gewahrt bleibt. Welchen Platz hat aber das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts im Rahmen des allgemeinen Schutzes der historischen Gebietsbestände?

Wer darf Selbstbestimmungsrecht ausüben?

Die lange Geschichte im Kampf um die Schaffung des Kantons Jura zeigt, was auch in anderen Zeiten und in anderen Weltregionen immer wieder Diskussionsgegenstand war: Das scheinbar einfache Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in seiner Anwendung meistens umstritten und wird konkret meistens als Sezessionsrecht in Anspruch genommen. Erste Volksbefragungen gab es 1860, wenn auch in einem nicht umstrittenen Vorgang der Schaffung des italienischen Nationalstaats. Nizza stimmte damals ebenfalls für Italien, wurde aber zum Dank für Kriegshilfe trotzdem an Frankreich abgetreten.

Vgl. Peter Hilpold, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker: Vom umstrittenen Prinzip zum vieldeutigen Recht. Bern/Frankfurt a. M. 2009. Mit einem Beitrag von Jörg Fisch. – Jörg Fisch  Das Selbstbestimmungsrecht der Völker: Die Domestizierung einer Illusion. München 2010.

Es entsprach dem Verständnis der Zeit, dass in erster Linie das Gebiet, damit zwangsläufig aber auch die zugehörige Bevölkerung des ehemaligen Basler Fürstbistums 1815 ohne Volksbefragung vom Wiener Kongress dem Kanton Bern überlassen wurde, dies als Kompensation für den Verlust der selbstständig gewordenen Waadt. Bern war damit allerdings wenig zufrieden. Die Klage lautete, man habe ihm einen Weinberg weggenommen und einen Holzschopf als Ersatz zugeteilt.

Anderseits waren die Leute im «Holzschopf» gegenüber dem Wechsel ziemlich indifferent. Es machte keinen wesentlichen Unterschied, unter welchem Regime man nichts zu sagen hatte. Der Wille, dann doch etwas zu sagen, nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts beträchtlich zu.

Die wachsende Unzufriedenheit im Laufe des Ersten Weltkriegs machte empfänglich für die vom amerikanischen Präsidenten Wilson proklamierte Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Ein Übriges tat die damals einsetzende Dekolonisationsbewegung, verstand man sich im Jura doch als eine Art Berner Kolonie. Die Entlassung vormaliger Kolonien in die Unabhängigkeit um 1960 wirkte sich Jahrzehnte später erneut stimulierend auf die jurassische Autonomiebewegung aus.

1959 wurde auf Betreiben der jurassischen Separatismusbewegung im gesamten Kanton Bern darüber abgestimmt, ob der Jura ein eigener Kanton werden soll. Wie zu erwarten, wurde die Vorlage jedoch mit rund 80’000 gegen rund 23’000 wuchtig verworfen. Auch im Jura (der Laufenbezirk inbegriffen) stimmte eine knappe Mehrheit von 16’355 Nein und 15’159 Ja gegen die Initiative, also für ein Verbleiben im Kanton Bern.

Aber: Die drei mehrheitlich katholischen Nordbezirke, die heute den Kanton Jura bilden, stimmten bereits damals mit 10’164 Ja gegen 4’391 Nein deutlich dafür; die drei mehrheitlich protestantischen Südbezirke mit 10’514 Nein und nur 4’462 Ja dagegen. Auch die Laufentaler als 7. Bezirk wollten damals bei Bern bleiben.

Zum einen entsprang die Berns Ablehnung dem naheliegenden Reflex, aus elementarem Besitzdenken nichts vom historischen Erbe preisgeben zu wollen. Zum anderen bestand auch die Verpflichtung gegenüber der «berntreuen» Jurabevölkerung, diese nicht fallen zu lassen. In diesem Punkt entsprach die Problemlage durchaus derjenigen Englands im Verhältnis zu den nordirischen Protestanten.

Die nötige Einsicht, dass man den Weg der friedlichen Konfliktregelung gehen musste, stellt sich nicht ohne weiteres und nicht von selbst ein. Dem Entscheid ging ein langer Kampf voraus. Ein Kampf, in dem es zu hitziger Agitation, zu Appellen ans Ausland, zu Strassenblockaden und einzelnen Gewaltakte (Brand- und Sprengstoffanschläge) gekommen war. Die Region war bis in die Dörfer und Familien hinein tief gespalten und zerrissen. An den Wänden waren warnende Aufschriften zu lesen, die darauf aufmerksam machten, dass der Jura zu einem «Belfast» werden könnte, einem Ort, in dem der Bombenterror zum Alltag gehörte.

Der entscheidende Schritt erfolgte – nach entgegenkommenden Voten einzelner Berner Regierungsräte dann in den Jahren 1966/67 – mit der Zulassung im Dezember 1969 einer erneut gesamtbernischen Volksabstimmung, diesmal aber nicht zur Zugehörigkeitsfrage, sondern zur Frage, ob eine auf den historischen Jura beschränkte Volksabstimmung abgehalten werden soll. Diese Abstimmung vom 1. März 1970 brachte nun mit  90’369 Ja gegen 14’086 Nein eine deutliche Zustimmung. Mögliche Motive für diesen bemerkenswerten Schritt könnten gewesen sein: echte Liberalität gemäss dem Zeitgeist der späten 1960er Jahre oder die Hoffnung auf ein erneutes Nein in der regionalen Abstimmung – oder einfach der Wunsch, in der einen oder anderen Variante endlich einmal Ruhe zu haben.

Die 1970 im Kanton Bern eingeleitete Kaskade von Plebisziten zu einer differenzierten Selbstbestimmung der im Jura lebenden Bevölkerung darf durchaus als vorbildlich gelten. Für die Berner war die Zustimmung zu diesem regionalen Plebiszit mit der Wahrscheinlichkeit verbunden, dass es einen Teil des Jura verlieren wird. Weitere Sezessionen waren unwahrscheinlich, obwohl Analogien insbesondere im Falle des Oberlands und am Rande auch des Berner Aargaus erörtert wurden.

Dass man in Bundesbern bereits in den 1950er Jahren auf Gebietsveränderungen gelassener reagierte zeigt der Basler Fall: 1947/48 verweigerten die Eidgenössischen Räte den Verfassungszusätzen der beiden Basel im Hinblick auf einer Wiedervereinigung die Gewährleistung. Der Aargau befürchtete den Verlust des  Fricktals, Solothurn den Verlust des Schwarzbubenlands – und die Berner eine weitere Belebung der wegen eines politischen Skandals (Affäre Möckli von 1947) ohnehin animierte Jurafrage. Erst 1960 gaben die Eidgenössischen Räte den zuvor blockierten Weg frei. Man kann heute spekulieren: Hätten die beiden Basel die immerhin bereits 1938 beschlossene und durch den Krieg und die anschliessende Blockade verzögerte Beratung der Wiedervereinigung zügig angehen können, die Zusammenlegung der beiden Halbkantone wäre spätestens in den 1950er zustande gekommen!

Vgl. Georg Kreis, Der Basler Wiedervereinigungsversuch der 1960er Jahre. Und: Der lange Abschied von der Wiedervereinigung. Und: Zum Wiedervereinigungsmanifest von 1990. Und: Territoriale Identität und gesellschaftlicher Wandel. Ist der Streit um Kantonszugehörigkeiten noch zeitgemäss? In: Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze Bd. 3. Basel 2005. S. 120-126, 128-135, 136-158, 160-168.

Wie das doch knappe Resultat vom 23. Juni 1974 zeigen sollte, konnte man nicht voraussagen, welches Lager mehr Stimmen mobilisieren wird, die Befürworter eines neuen Kantons oder die Befürworter eines Verbleibens im alten Kanton. 36’802 sprachen sich 1974 für einen neuen Kanton aus, 34’057 dagegen (die wesentlich höheren Zahlen im Vergleich zu 1959 erklären sich mit der Einführung des Frauenstimmrechts). Darum konnte die unbestreitbare Tatsache ins Gewicht fallen, dass viele Jurassier gar nicht mehr im Jura wohnten, in andere Teile der Schweiz oder sogar ins fernere Ausland ausgewandert waren, während eine ins Gewicht fallende Zahl von Bernern aus dem alten Kantonsteil sich im historischen Jura niedergelassen hat.

Dies führte zur verständlichen und doch befremdlichen, jedenfalls mit den eidgenössischen Gepflogenheiten unvereinbaren Forderung, bei der Stimmberechtigung nicht auf das Wohnortsprinzip, sondern auf das Abstammungsprinzip (das Blut) abzustellen, das heisst nur Angehörige des «peuple jurassien», wie immer dies definiert wurde, am Selbstbestimmungsrecht teilhaben zu lassen.

Nach geltendem Recht konnte jeder und jede spätestens drei Monate nach Deponierung seiner Schriften überall in der Schweiz selbst an enorm zukunftsträchtigen beziehungsweise schicksalshaften Abstimmungen teilnehmen. Der Gedanke lag nahe, an Orten mit spitzen Mehrheitsverhältnissen mit der Verschiebung der Papiere das eine oder andere Lager zu stärken. Zu Beginn der 1990er Jahre versuchte der berntreue Nationalrat Jean-Pierre Bonny – allerdings erfolgslos – wegen der erhöhten Bedeutung von Gebietsabstimmungen für solche Plebiszite ein Zweidrittelsmehr einzuführen.

Der 23 juin 1974 war so etwas wie ein Gründungsdatum für den neuen Kanton, woran verschiedene Strassennamen erinnern, zugleich war es aber auch ein Tag, der die Spaltung des historischen Jura einleitet. Die 1970 beschlossenen und 1974/75 durchgeführten drei Abstimmungsrunden, welche dem endlich zugelassenen Selbstbestimmungsrecht möglichst differenziert Rechnung tragen wollten, führten zu einer klaren Teilung des Gebiets: Aus den drei Nordbezirken entstand der Kanton Jura, die drei Südbezirke blieben dagegen beim alten Kanton. Einzelne Grenzgemeinden konnten sich zudem für die eine oder andere Seite entscheiden. Eine eigentlich naheliegende und vom Historiker Herbert Lüthy vorgeschlagene Lösung wäre die Schaffung von zwei Halbkantonen gewesen. Das war aber den einen zu wenig, den anderen zu viel.

Der historische Jura war unter dem Fürstbistum Basel eine Herrschaftseinheit und hatte insbesondere auch in der Sprache eine verbindende Dimension. Er war aber auch entlang der Konfessionsgrenze klar unterteilt und war, wie vor allem im Süden gerne betont wurde, von unterschiedlichen Mentalitäten geprägt, die wiederum mit der Konfession in Verbindung gebracht wurde: So meinte man in fragwürdiger Weise dem Norden Dogmatismus und Zentralismus zuschreiben zu können, dem Süden dagegen Individualismus und kommunales Denken.

Abschluss oder Zwischenhalt?

Das weitere Verfahren nach dem ersten Juraplebiszit von 1974 sollte mit zwei zusätzlichen Abstimmungen in möglichst differenzierter Weise den regionalen und örtlichen Zugehörigkeitswünschen Rechnung tragen. In den nächsten Runden konnten sich die drei Südbezirke, was einigermassen zu erwarten war, vom Mehrheitsentscheid von 1974 distanzieren und für ein Verbleiben beim alten Kanton aussprechen.

Und in einer dritten, aus mehreren Plebisziten auf Gemeindeebene bestehenden Runde konnten einzelne Gemeinden entscheiden, ob sie in den anderen Jurateil wechseln wollten: So kam es in 12 Gemeinden des Südbezirks Moutier zu Abstimmungen zur Frage, ob sie zum Norden wechseln wollten, und in einer Gemeinde des Nordbezirks Delémont zu einer Abstimmung zur Frage, ob sie zum Süden wechseln wollte. Im Bezirk Moutier machten 8 der 12 Gemeinden von dieser Möglichkeit Gebrauch, nicht aber die Gemeinde Moutier, wo nur 46% für den Norden stimmten. In der anderen Richtung, vom Norden in den Süden, kam der eine Gemeindewechsel ebenfalls zustande.

Damit war abgesehen vom weiter unten erörterten Spezialfall Vellerat und der hier nicht zu rekapitulierenden Laufentalfrage das Verfahren abgeschlossen. Im Norden machte man sich an den Aufbau des neuen Kantons. Dieser musste im September 1978 noch in einer gesamtschweizerischen Verfassungsabstimmung gutgeheissen werden: 82,8% und alle Stände stimmten zu. Damit wurde die in Art. 1 aufgeführte Liste um einen 23. Kanton erweitert.

Der Fall «Vellerat»

Die zum Südjura gehörende 70-Seelen-Gemeinde Vellerat hatte wegen seiner geografischen Lage nicht am Kaskadenverfahren von 1974/75 teilnehmen können, nun war sie aber durch die Schaffung des Nordkantons von seinen Nachbargemeinden abgetrennt. Das Dorf beschloss, sich einseitig vom Kanton Bern loszusagen und proklamierte sich als «Freie Gemeinde der Schweiz» (mit eigener Briefmarke etc.) Nach jahrelangen Verhandlungen erlangte es schliesslich von Bern 1993/95 Zustimmung zum Kantonswechsel.

Jetzt musste aber wiederum die ganze Schweiz dazu ihren Segen geben, was dann auch im März 1996 mit einer Zustimmung von 91,6% geschah. Die wenigen Vorbehalte befürchteten, dass Vellerat ein Präzedenzfall sei und weitere Südgemeinden dem Beispiel folgen könnten. Zuvor hatte selbstverständlich auch der Kanton Jura, der sich in diesem Konflikt grosse Zurückhaltung auferlegt hatte, schliesslich seine Zustimmung gegeben; einzig die Gemeinde Ederswiler, die gehofft hatte, im Gegenzug in den Kanton Bern wechseln zu können, lehnte knapp ab.

Der Fall Vellerat machte klar, dass man auf eine gesamtschweizerische Abstimmung verzichten kann, wenn alle Beteiligten, insbesondere die betroffenen Kantone, ihr Einverständnis gegeben haben. Die neue Bundesverfassung von 1999 begnügte sich in Art. 53, 3 damit, am Schluss des Verfahrens die Zustimmung nur noch der Eidgenössischen Räte vorzusehen.

Ominöser Wiedervereinigungsartikel

Weil der Art. 138 der Verfassung des 1978 geschaffenen Kantons Jura eine Formulierung enthielt, welche verklausuliert die Ambition einer gelegentlichen Übernahme von Teilen des Berner Jura zum Ausdruck brachte, verweigerten die Eidgenössischen Räte 1977 diesem Punkt die für alle kantonalen Verfassungsbestimmungen erforderliche Genehmigung («Gewährleistung»).
Die Formulierung (weniger die dahinter steckende Ambition) war harmlos und hätte wegen seines Verweises auf das geltende Recht eigentlich nicht beanstandet werden müssen: «Die Republik und der Kanton Jura kann jeden Teil des von der Volksabstimmung vom 23. Juni 1974 unmittelbar betroffenen jurassischen Gebiets aufnehmen, sofern sich dieser Teil nach Bundesrecht und nach dem Recht der betroffenen Kantons ordnungsgemäss abgetrennt hat.»

Der Neuenburger Staatsrechtler Jean-François Aubert konnte darin nichts Rechtswidriges erkennen, weil er keinen Anspruch auf die Herausgabe des Südens und damit auf das Gebiet eines anderen Kantons enthielt.

Vgl. J.F. Aubert, So funktioniert die Schweiz. Dargestellt anhand einiger konkreter Beispiel. Muri b. Bern 1980. S. 62.

Doch gerade aus der Erfahrung mit der Jurafrage wurde das Genehmigungsverfahren für Gebietsveränderungen inzwischen etwas leichter gemacht. Gemäss Art. 53,3 der aktuellen Bundesverfassung (1999) ist für Gebietsveränderungen zwischen den Kantonen jetzt «nur» noch a) die  Zustimmung der direkt betroffenen Bevölkerung sowie b) der betroffenen Kantone und schliesslich c) der Bundesversammlung in der Form eines Bundesbeschlusses erforderlich.

Fallen gelassen wurde die alte Bestimmung, dass Kantonswechsel von einzelnen Gemeinden als Verfassungsänderung eingestuft wurde, zu dem sich obligatorisch Volk und Stände aussprechen mussten. Dies war noch der Fall, als Vellerat nach jahrelangem Kampf vom Berner Jura 1996 in den Kanton Jura wechseln durfte.

PS: Kürzlich referierten südafrikanische Historikerinnen der Witwatersrand-Universität in Johannesburg über die Jurafrage. Man interessiert sich in dem mit Partnern der Universität Basel durchgeführten Projekt für diese Frage, weil sich an ihr untersuchen lässt, wie sich mit demokratischen Vorgehensweisen territoriale Streitfragen lösen lassen; Fragen, die es wegen Zuteilungen von bestimmten Orten (z.B. das Township Khutsong) zu bestimmten Provinzen (z. B. Gauteng) auch in Südafrika gibt.

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