Erst zwei Europäer sind die 42,195 Kilometer schneller gelaufen als Tadesse Abraham. Der gebürtige Eritreer verbessert am Marathon in Seoul den Schweizer Rekord Viktor Röthlins auf 2:06:40 Stunden. Nach Pannen und Enttäuschungen in den letzten Jahren hat der 33-Jährige selbst nicht damit gerechnet.
Viktor Röhtlin, der Marathon-Europameister von 2010, taucht nicht mehr in den Schweizer Rekordbüchern auf. Am Seoul Marathon verbesserte Tadesse Abraham mit einer Zeit von 2:06:40 Stunden Röthlins alte Bestmarke vom Zürich Marathon 2008 um 43 Sekunden – jeden der 42,195 Kilometer lief Abraham also rund eine Sekunde schneller als Röhtlin. «Ich bin glücklich und froh, wie alles aufgegangen ist», freute sich Abraham im Ziel, im Olympiastadion von 1988.
Abrahams Entscheid, trotz schlechter Erfahrung nach Seoul zurückzukehren, machte sich bezahlt. Vor einem Jahr schon war er in die Hauptstadt Südkoreas gereist, um Marathon-Geschichte zu schreiben. Eine Erkältung verhinderte eine Topleistung (10. Platz in 2:11:37 Stunden).
Nun vermochte er die gezielte Vorbereitung – zweieinhalb Monate im Hochland Äthiopiens in einer Gruppe hochkarätiger Langstreckenläufer – besser zu nutzen. «Ich wollte meine Bestmarke knacken, sie diente mir als Massstab», sagte er. Seit dem Zürich Marathon vor bald drei Jahren stand diese bei 2:07:43 Stunden.
Nur 4 Sekunden über dem Europarekord
Auf Kurs für dieses Ziel befand sich Abraham von Anfang an. In der Spitzengruppe profitierte er von erstklassigen Widersachern. Ab Kilometer 34 aber galt es die «Reifeprüfung» zu bestehen. Die Besten steigerten den Rhythmus – Sieger Wilson Erupe aus Kenia lief schliesslich 2:05:13 Stunden.
Wilson Loyanae Erupe aus Kenia gewinnt den Seoul Marathon 2016. (Bild: Keystone/AHN YOUNG-JOON)
Abraham liess sie ziehen und war fortan auf sich alleine gestellt. Noch stärker als zuvor verliess er sich nun auf sein Körpergefühl. Und die Aussicht auf eine Topleistung liess ihn kämpfen, «bis zum letzten Meter», wie er sagte. Den Schweizer Rekord hatte er im Hinterkopf.
Als die reguläre Endzeit feststand, blieb Abraham nur noch das Staunen: 2:06:40 Stunden, eine ausgezeichnete Leistung: Nur 4 Sekunden liegt die Zeit über dem Europarekord von Antonio Pinto (Portugiese, gelaufen 2000 in London) und Bennoît Zwierzchiewski (Franzose, gelaufen 2003 in Paris).
«Mit dieser Marke hatte ich mich überhaupt nicht beschäftigt», sagte Abraham. In der Bestenliste Europas belegt er nun Platz 3.
Die Enttäuschungen der letzten Jahre
Mit der Leistung in Seoul hat sich Tadesse Abraham in eine neue Liga vorgeschoben – nach etlichen Fehlanläufen. Die Heim-Europameisterschaft 2014, wenige Monate nachdem der gebürtige Eritreer den Schweizer Pass erhalten hatte, gehörte dazu. Als nominelle Nummer 1 entsprach Platz 9 keineswegs dem Erwünschten. Und Marathon-Misserfolge hatte Abraham auch nach Seoul vor einem Jahr und an den Weltmeisterschaften im letzten Sommer in Peking (19. Platz nach einer Getränkepanne) zu verarbeiten.
Jetzt endlich passte alles. «Mein Dank gilt vor allem meiner Frau», sagte er. Sie verzichtete auf ihn seit Anfang Jahr, stützte seinen Weg und klagte nicht über Mehrarbeit. Umso mehr freut sich Abraham, wenn er sie und seinen Sohn heute wieder in die Arme schliessen kann.
Den kommenden Monaten blickt Abraham nach dieser Parforce-Leistung voller Zuversicht entgegen. An Höhepunkten wird es nicht mangeln: Die Europameisterschaften Mitte Juli in Amsterdam (Halbmarathon) sowie die Olympischen Spiele im August in Rio bilden die Zielrennen.
Die grosse Masse am Seoul Marathon – in der Spitzengruppe (nicht im Bild) läuft Tadesse Abraham mit. (Bild: Keystone/AHN YOUNG-JOON)