Allez la Suisse – der Lackmustest für eine Spielergeneration

Grossen Worten Taten folgen zu lassen – und das vom ersten Auftritt an: Das ist die Herausforderung für die Schweizer Nationalmannschaft und ihren Trainer bei der Europameisterschaft in Frankreich.

Swiss national soccer head coach Vladimir Petkovic, right, and Swiss soccer players attend a Swiss national soccer team photo shoot, in Lugano, Switzerland, Wednesday, June 1, 2016. The Swiss national soccer team prepares for the UEFA EURO 2016 soccer championship in France. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)

(Bild: Keystone/JEAN-CHRISTOPHE BOTT)

Grossen Worten Taten folgen zu lassen – und das vom ersten Auftritt an: Das ist die Herausforderung für die Schweizer Nationalmannschaft und ihren Trainer bei der Europameisterschaft in Frankreich.

«In diesem Metier sind gesprochene Worte wie Pfeile, die man abgeschossen hat – man kann sie nicht mehr zurücknehmen.» Diese Worte sprach Christian Gross, als er in Basel noch im Ruf eines Fussballweisen stand.

So gesehen hat Granit Xhaka den Bogen ordentlich gespannt, als er ungefähr zehn Jahre später, zu Beginn des EM-Jahres 2016 in einem Interview sagte: «Warum nicht Europameister werden? Mit ein bisschen Glück und guten Leistungen können wir auch den Titel holen!»

Höchstmögliche Ziele

Nun könnte man dies als eher unschweizerisch vorlaut auffassen oder als Selbstbewusstsein eines jungen Mannes, der schon als Youngster im Trikot des FC Basel dadurch auffiel, sein Herz auf der Zunge zu tragen. Eine Weltkarriere wurde ihm damals schon prophezeit, und nun, mit gerade einmal 23 Jahren, ist er bei Arsenal London gelandet und mit dem kolportierten Transfergegenwert von 45 Millionen Franken zum teuersten Spieler geworden, den der Schweizer Fussball je hervorgebracht hat.

Vielleicht muss man diese Ich-packe-meinen-Koffer-nicht-für-zehn-Tage-sondern-für-das-ganze-Turnier-Attitüde besitzen, um aus seinem Talent etwas zu machen und es so weit zu bringen. Sich die höchstmöglichen Ziele zu setzen ist eine Haltung, die ganz grosse Sportler von anderen unterscheidet. Insofern tut ein Granit Xhaka dem schweizerischen Fussballwesen sogar gut.

Die Achtelfinals wären schon einmal besser als alles andere bisher Dagewesene.

Man könnte es natürlich auch eine Nummer kleiner machen. Wie Xherdan Shaqiri, der im Gespräch mit der TagesWoche unlängst sagte: «Die Achtelfinals zu überstehen wäre etwas Besonderes für die Schweiz.» Das wäre immerhin besser als alles andere, was die Schweiz bisher geleistet hat.

Erst zweimal hat sich die Nationalmannschaft für die Endrunde einer Europameisterschaft sportlich qualifiziert. 1996 in England scheiterte sie nach den Gruppenspielen mit einem Punkt und einem Tor. 2004 wiederholte sich dieses Schicksal mit derselben Bilanz. Und 2008, als EM-Gastgeber automatisch dabei, war bereits nach zwei Vorrundenspielen das Aus besiegelt. 

Die Schweiz kann man sich so betrachtet also nicht wirklich als Europameister 2016 vorstellen. Schon gar nicht, wenn man nachvollzieht, wie mühsam sie sich durch die Qualifikation gequält hat und wie sie bei den Testspielen im Frühjahr mehr Ratlosigkeit als Vorfreude auf das Turnier in Frankreich hinterliess. Und von der eigenwilligen Fifa-Weltrangliste – aktuell minus 1 und Platz 15 – sollte man sich ohnehin nicht blenden lassen.

Diese Schweizer Nationalmannschaft muss jetzt auch einmal ihr Talent zur Schau stellen.

Es muss also etwas anderes sein, auf dem die unerschütterliche Selbsteinschätzung von Granit Xhaka fusst. Das hat etwas mit dem Talent dieser Spielergeneration zu tun. Mit den Palmarès, die die Profis in ihren Clubs aufgestellt haben, mit ihren Werdegängen, die sie früh aus dem Ausbildungsmekka der Super League hinaus in die grosse, weite Fussballwelt führten. Dorthin also, wo nebst Talent vor allem Durchsetzungswille und der Glaube an die eigene Stärke nötig sind für den Fortgang der Karriere. Und in einer medial durchsetzten Branche dringt natürlich die Ankündigung, der Sieger sein zu wollen, kräftiger durch als das Kleinlaute.

Nur: Diese Schweizer Nationalmannschaft muss jetzt auch einmal ihr Talent zur Schau stellen. Sie muss jetzt auch einmal zeigen, dass sie es draufhat. Deshalb wird diese Euro zum ultimativen Lackmustest für diese Generation und ihren Trainer Vladimir Petkovic.

Durchschnittsalter: 26 Jahre

Der bringt zum Auftakt am Samstag in Lens gegen Albanien eine Elf an den Start, die im Kern jener seines Vorgängers ähnelt. Sommer, Lichtsteiner, Schär, Djourou und Rodriguez in der Abwehr, Xhaka, Behrami und Dzemaili im Mittelfeld sowie vorne Shaqiri – sieben von diesen neun Spielern waren schon unter Ottmar Hitzfeld gesetzt. Dazu wird Petkovic aus Embolo, Mehmedi und Seferovic zwei weitere wählen.

Mit diesem Kern hat die Schweiz vor zwei Jahren an der WM in Brasilien einen Last-Minute-Sieg zum Auftakt gegen Ecuador errungen (das 2:1 durch Seferovic in der Nachspielzeit). Sie hat gegen Frankreich beim 2:5 eine Abreibung bekommen, und sie lag Shaqiri nach dessen Hattrick gegen Honduras zu Füssen. Der Achtelfinal gegen Argentinien (0:1) wird in der Rückschau etwas gar mythologisiert. Ja, sie erhielt erst in der 118. Minute den Gegentreffer, ja, Blerim Dzemaili traf in der Nachspielzeit der Verlängerung nur den Pfosten, und ja, die Schweizer Mannschaft schied unglücklich und nach leidenschaftlichem Kampf aus. Sie schien so nahe dran an einem Elfmeterschiessen und an einer Sensation, wie sie weit weg davon war.

Bei dieser aufgeblasenen Endrunde zu scheitern, wäre die grösste anzunehmende Blamage.

Was sie mitgenommen hat aus Brasilien ist eine ganze Portion Turniererfahrung, die sie nun gegen Novizen wie Albanien oder Rumänien in die Waagschale werfen kann. Mit einem Durchschnittsalter von knapp über 26 Jahren und im Schnitt 31 Länderspielen auf dem Buckel sollte sich das Team nicht vom ersten Windstoss und Regenguss aus der Bahn werfen lassen.

In der Vorrunde dieser auf 24 Teams aufgeblasenen Endrunde zu scheitern, wo auch noch die vier besten Gruppendritten eine Runde weiterkommen – es wäre die grösste anzunehmende Blamage. Der Trainer, der sowieso keinen leichten Stand hat, wäre nicht mehr zu halten, eine Spielergeneration desillusioniert, aus «gesprochenen Worten wie Pfeilen» würde ein Bumerang.

«#AllezLaSuisse»

Einmal ganz abgesehen davon, dass die unselige, weil den Realitäten im Schweizer Fussball nicht angemessene Debatte um «richtige und andere Schweizer», um Secondos mit dem Herz am rechten Fleck neu befeuert würde. Entzündet wurde sie im Frühjahr 2015 von Stephan Lichtsteiner, der die Mannschaft nun als Captain ins Stade Bollaert-Delelis von Lens führen wird. 

Den vollmundigen Ansagen über ihre fussballerische Schaffenskraft nun Taten folgen zu lassen – und zwar gleich im ersten Spiel –, das wäre die schönste Verheissung, die von dieser Nationalmannschaft ausgehen könnte. Dann könnte in Ungefähr auch das eintreten, was sich Yann Sommer auf die Fahne geschrieben hat: «Wir wollen die Schweiz stolz machen.» Denn hierzulande gilt noch mehr als vielleicht anderswo: Man muss schon in Vorleistung treten, um beim geneigten Publikum so etwas wie Euphorie auszulösen. Verordnen lässt sich das nicht, mit blumigen Worten herbeireden auch nicht. Mögen die Spieler das von ihrem Verband ersonnene «#AllezLaSuisse» zum Trending Topic machen.

Die Schweizer Antwort auf eine Nachbar-Debatte im Nachbarland-Deutschland:

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