Am Tisch mit Mozart

Ronnie O’Sullivans Comeback befeuert den Kult um die Weltmeisterschaft im Snooker, ein Sport, der weltweit seine Faszination ausübt und selbst in Ländern ein Millionenpublikum vor die TV-Geräte lockt, die keine Protagonisten haben.

Bildnummer: 09394985 Datum: 15.01.2012 Copyright: imago/Xinhua (120115) -- London, Jan. 15, 2012 (Xinhua) -- Ronnie O Sullivan of England observes during his first round match in 2012 Snooker Masters at the Alexandra Palace in London, Jan. 15, 2012. (X (Bild: imago sportfotodienst)

Ronnie O’Sullivans Comeback befeuert den Kult um die Weltmeisterschaft im Snooker, ein Sport, der weltweit seine Faszination ausübt und selbst in Ländern ein Millionenpublikum vor die TV-Geräte lockt, die keine Protagonisten haben.

Na also, geht doch noch. Ronald Antonio O’Sullivan nickte nur kurz, nachdem er den filzbezogenen Spieltisch im Crucible Theatre zu Sheffield vorigen Samstag als überlegener Sieger verliess. Grössere Gesten hätten möglicherweise auch so gewirkt, als sei er selbst vom klaren 10:4 über den Schotten Marcus Campbell, immerhin 27. im weltweiten Ranking, überrascht worden. Dabei soll diese ganz persönliche Kampagne nach seiner Vorstellung noch ein wenig länger dauern – bis zum britischen Bank Holiday am 6. Mai am liebsten, wenn das Finale der Weltmeisterschaft entschieden wird.

«Ronnie the Rocket» und der Saison-Höhepunkt im Snooker, diesem so anspruchsvollen Billard-Sport (siehe Kasten): Das ist eine ebenso lange wie reizvolle, aber auch komplizierte Beziehung. Der 37-jährige Londoner hat das WM-Turnier im «Schmelz­tiegel», wie der Theaterkomplex in Sheffield genannt wird, zwischen 2001 und 2012 schon vier Mal abgeschlossen. Und wenn «der vielleicht talentierteste Spieler in der Geschichte­ dieses Sports» («Daily Telegraph») dort scheiterte, lag es nach einhelliger Meinung nur an ihm: In Bestform, wenn er nicht in sich selbst verstrickt ist, gilt er als kaum schlagbar.

Gleich nach dem Triumph vor ­einem Jahr gab O’Sullivan bekannt, dass ihm sein Sport bis zum Hals stehe­ und er sich nun ein halbes Jahr Auszeit nehme. Daraus wurden zwölf Monate, in denen er ausser ein paar Showeinlagen nur einen halbwegs ernstzunehmenden Match bestritt – und dabei gegen einen gewissen Simon Bedford, 85. im Ranking, verlor. Umso überraschender kam der im Feb­ruar verkündete Entschluss, den Titel nun doch verteidigen zu wollen. Womit sein 21. WM-Start schon vorab ein Spektakel war.

Zurück vom Bauernhof

Kann ein Billard-Crack ohne jede Wettkampf-Praxis an den Tisch zurückkommen, um mal eben wieder Weltmeister zu werden? Oder ist auch ein genialisch veranlagter Ausnahme­sportler wie «The Rocket», der zuletzt als Praktikant auf einer englischen Farm gearbeitet hat, dann ohne reelle Chance? Offenbar ist das nicht nur für die via Eurosport zugeschaltete Fan-Gemeinde, begleitet von Kult-Kommentator Rolf Kalb, der besondere Reiz. «Es könnte ein Autounfall werden, es könnte gut werden», liess er sich öffentlich vernehmen, «man weiss es einfach nicht.»

Profiboxer Muhammad Ali scheiterte schmerzlich, als er 1980 in den Ring zurückkehrte, um den amtierenden Schwergewichts-Champion Larry Holmes zu fordern. Und Niki Lauda brauchte nach seinem Comeback im Cockpit immerhin drei Jahre, bis er ein zweites Mal die Formel 1 gewann. Nach dem klaren Sieg im Erstrundenmatch macht es den Anschein, dass O’Sullivan sich nicht völlig blamiert. Flüssig sein Stellungsspiel, raffiniert die «Safetys» genannten taktischen Ablagen – und typisch seine Fähigkeit, in kritischen Phasen durch hohe Serien («Breaks») die Spiele («Frames») noch an sich zu reissen.

Das kundige Publikum im «Crucible», darunter der bildende Künstler und Freund Damien Hirst, spendete nach dem letzten Coup jedenfalls stehende Ovationen, und in den Internet-Foren wurde jubiliert. Nach wie vor ist der mal intro-, mal extrovertierte Sohn eines vorbestraften Sexshop­ketten-Besitzers die denkbar stärkste PR-Lok für den noblen Sport. Seine Rückkehr trug gewiss ihren Teil dazu bei, dass der Abverkauf der Tickets in Sheffield diesmal schon vor Turnierstart die Eine-Million-Pfund-Marke überstieg.

Es macht leise klack

Aber auch ohne den Titelverteidiger sind die leisen Duelle der Männer mit den Fliegen, nachdem sie auf der Insel zwischendurch als altbacken galten, von Europa bis Asien inzwischen Kult. Übertragen wird in 75 Länder. Bis zu einer Million TV-Kunden verfolgen im deutschsprachigen Raum das Finale des Monster-Turniers, das seit 1977 immer in Sheffield ausgetragen wird. Obwohl da weder für Deutsche noch Schweizer derzeit Hoffnungs­träger zu verfolgen sind. Und obwohl oder gerade weil bei den dezenten Übertragungen nicht gerade viel passiert. Es macht leise klack, wenn die bunten Kugeln in die sechs ledernen Taschen rollen. Unparteiische mit Samthandschuhen geben den Spielstand bekannt und entscheiden auf «Foul» oder «Miss».

Die vorwiegend britischen und chinesischen Queue-Stars messen sich in der «Main Tour» als globaler Prestige­serie der Dachmarke «World Snooker». Und der internationale Boom stellt sich fast überall gleich dar: Man findet Snooker entweder langweilig oder überschlägt sich vor Begeisterung. So wie inzwischen auch in der Volksrepublik China, wo 5 von ­14 «Main Tour»-Terminen steigen und bis zu 30 Millionen via TV zuschauen.

Es ist das Verdienst von Barry Hearn, Sportpromoter, Ex-Manager O’Sullivans und «World-Snooker»-Vorsitzender, den Kampf um die Kugeln zuletzt immer dort hingetragen zu ­haben, wo neue Märkte entstanden sind. Dadurch hat sich die Reichweite der Marke, aber auch der Termindruck für die Aktiven deutlich erhöht. Was sich inzwischen in den Resultaten ausdrückt: In der gerade zu Ende gegangenen Saison hat ausser dem englischen Weltranglisten-Primus Mark Selby (2 Siege) keiner der Asse mehr als ein wichtiges Turnier gewonnen.

So betrachtet, käme das zwölfmonatige Sabbatical des Titelverteidigers einem Sitzstreik gleich – nur dass der es nicht so verstanden wissen will. Ihm habe es einfach gefehlt, ab und zu von zu Hause wegzukommen, erklärte­ O’Sullivan gegenüber dem «Guardian»: «Ich vermisse die Tour, die Leute. Sie waren wie eine Familie für mich. Du merkst nicht, was für ein grosser Teil deines Lebens das ist, bis es dir weggenommen wird.»

Hin und her gerissen zwischen den Extremen: So hat O’Sullivan die Karriere und seine übrige Zeit seit jeher gelebt. Verfolgt von depressiven Schüben und diversen Suchtphasen, ist ihm das begnadete Talent ebenso Fluch wie Segen gewesen. Einmal im Flow, pflegte er in Sheffield den Tisch so furios wie kein Zweiter abzuräumen. Seine 5:20 Minuten sind bis heute Rekord für das schnellste «Maximum Break» (147 Punkte) in einer offiziellen Partie.


5:20, um alle Kugeln abzuräumen. O’Sullivan in Aktion (das Video wird nur dargestellt, wenn Sie online sind).

So hat er es zur millionenschweren Ikone des Snooker gebracht. Wenn es nicht lief, konnte er aber auch gegen mässige Gegner komplett einbrechen. Oder mitten im Match entnervt aufhören und sich nach Hause verziehen – so wie im Viertelfinal der britischen Meisterschaften 2006 gegen den Erzrivalen Stephen Hendry.

Triumph oder Absturz

«Scheisse, das ist wie Mozart», entfuhr es dem Stones-Gitarristen Keith Richards, als er den jungen O’Sullivan spielen sah – nachzulesen in der schonungslosen Autobiografie «Ronnie», die in Grossbritannien zum Bestseller avancierte und auch in deutscher Sprache vorliegt. So brillant war der Rückkehrer beim Auftaktmatch im Schmelztiegel noch nicht. Aber atemberaubende Steigerungen sind in diesem besonderen Fall genauso möglich wie dramatische Abstürze.

Und noch verspürt er wenig Neigung, es anderen Sportkanonen gleichzutun, die im Ruhestand nur noch Gewicht zulegen. «Ich glaube, ich muss weiterspielen, bevor ich etwas anderes im Leben finde, das Snooker ersetzt», ist er vorläufig überzeugt. «Wie lange das so sein wird, weiss ich nicht.»

Die Weltmeisterschaften im Snooker, einer ursprünglich für britische Soldaten in Indien eingeführten Billard-Variante, wurden erstmals 1927 ausgetragen.

In diesem Jahr findet das 17-tägige Turnier (bis 6. Mai) als Endrunde von 32 Teilnehmern statt. Rekordsieger nach den Weltkriegen ist der Schotte Stephen Hendry, der zwischen 1990 und 1999 sieben Mal gewann. Seit der Austragung in Sheffield hat noch kein Weltmeister seinen ersten WM-Titel im Folgejahr verteidigen können. Auch O’Sullivan unterlag nach seinem ersten Triumph 2001 dem «Fluch des Crucible». In der Zwischenzeit steht er jedoch bereits bei vier WM-Titeln. In diesem Jahr tritt er als Titelverteidiger an, nachdem er im Mai 2012 seinen Landsmann Allister Carter im Final 18:11 bezwungen und die 250’000 Pfund Siegprämie eingestrichen hatte.

Vom 27. Mai bis zum 6. Juni steigt im polnischen Zielona Góra das EM-Turnier – ohne die Stars der Main Tour, aber mit fünf Schweizer Aktiven. Der erst 16-jährige Alexander Ursenbacher aus Rheinfelden, frisch gebackener Schweizer Meister, will sich bei den Turnieren der Q-School (ab 11. Mai) für die letzten vier freien Plätze auf der Main Tour qualifizieren.

Wie es geht? Immer erst eine rote (1 Punkt), dann eine der bunten Kugeln (2–7 Punkte) einlochen. Letztere werden anschliessend wieder auf ihre festen Positionen gestellt. Bis die letzte rote Kugel gelocht ist – und das Endspiel auf die Farben (in fester Folge) beginnt. Es gewinnt das Spiel (Frame), wer dabei die meisten Punkte erreicht hat. Fehler und Fouls werden mit Abzügen bestraft. Den Match gewinnt, wer mehr Frames für sich entschieden hat. Beim Endspiel der WM in Sheffield ist das der Spieler, der im Best of 35 zuerst 18 Frames gewonnen hat.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.04.13

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