Er gilt in Italien als grosser Schweiger. Lieber lässt Andrea Pirlo Taten sprechen. So wie mit seinem Elfmeter à la Panenka im Viertelfinal gegen England, den die Italiener im Penaltyschiessen 4:2 gewinnen. Im Halbfinal trifft Italien auf Deutschland.
Das Spiel war gerade dabei, eine für Italien ganz falsche Abzweigung zu nehmen. 120 Minuten lang hatten die Männer in Blau das Spiel gemacht. 35 Mal waren sie gemäss den Erbsenzählern der Uefa den mit ihren Versuchen gescheitert, einen Treffer zu erzielen. Und einmal hatten sie sogar getroffen – allerdings aus Abseitsposition.
Die Engländer dagegen waren ab der 60. Minute vor allem noch dies gewesen: kraft- und ratlos. Mario Balotelli alleine kam am Ende auf mehr Abschlüsse als alle Engländer zusammen. Aber das war nun wirklich kein Wunder. Denn wer mit Mann und Maus verteidigt, vorne auf den lieben Gott sowie einen unsichtbaren Wayne Rooney hofft und in der Mitte als Schaltzentrale einen ab Minute 60 von Krämpfen geplagten Steven Gerrard hat, kommt normalerweise nicht zu vielen Chancen.
Elfmeterschiessen? Für England scheinbar ein grosses Ziel
Und doch hatten sie plötzlich alle Trümpfe in den Füssen, diese Engländer, die während einer Stunde so ausgesehen hatten, als sei ein Elfmeterschiessen für sie der erstrebenswerteste Zustand in dieser Welt. Sie, die Jäger der verlorenen Penaltys, führten nach Riccardo Montolivos Fehlschuss 2:1 in der finalen Entscheidung.
Dann legte sich Andrea Pirlo den Ball zurecht. Auf dem Feld wirkt der 33-Jährige manchmal fast so, als ginge ihn all das um ihn herum wenig bis gar nichts an. Bis er einen seiner Pässe schlägt, die nur er spielen kann, weil nur er diesen Überblick über das Spiel besitzt. Ganz so, als habe er ein zusätzliches Auge, mit dem er die Partie von der Tribüne aus beobachtet. «Pirlo sieht das Spiel aus anderen Winkeln als alle anderen auf dem Feld – und auch als wir zuhause!», hatte Manchester Uniteds Innenverteidiger Rio Ferdinand bewundernd während der Partie getwittert.
Ein Pirlo macht keine Faxen
Pirlo also nahm Anlauf. Joe Hart im Tor der Engländer machte seine Faxen, er lachte, er hüpfte, er wirkte extrem zuversichtlich. Pirlo nicht. Pirlo sah aus wie immer. So, als ginge er im Kopf noch einmal die Einkaufsliste für Penne alla Norma durch. Nur einmal zuckte seine Zunge nach vorne, das war’s.
Es lag keine übermässige Spannung in seinem Körper, als er auf den Ball zulief. Die war auch gar nicht nötig. Ein kleiner Schubser bloss genügte, um den Ball in die Mitte des Tores zu lupfen. Ach was – zu streicheln. Auf dem Boden, irgendwo auf der rechten Seite des Tores lag Joe Hart.
In seiner Heimat gilt Pirlo als grosser Schweiger. Aber in dieser Szene hatte er gesprochen. Nicht mit dem Mund. Das kann jeder. Mit einer Tat. Andrea Pirlo liebkoste den Ball mit sanfter Geste. Und doch wirkte die Aktion dadurch mächtiger als jeder Donnerhall.
Da war keine Zuversicht mehr
Er drehte die Psychologie des bisherigen Elfmeterschiessens. Noch hatten die Engländer alle Vorteile auf ihrer Seite. 2:2 stand es bloss, England hatte einen Schützen mehr. Ashley Young hätte seine Farben wieder in Führung bringen können.
Aber er tat es nicht, er traf die Latte. Und Joe Hart? Lachte nicht mehr. Stattdessen versuchte er sich jetzt mit einem aggressiven Gesichtsausdruck. Aber da war keine Zuversicht mehr. Da war nur noch ein 25-Jähriger, der versucht, Selbstvertrauen zu zeigen, wo keines ist. Andrea Pirlo hatte ihn mit einem einzigen Schuss den Schneid abgekauft. Mit einem «Panenka», der einzigen Variante des Elfmeters, bei der der Torwart wie ein Verlierer aussieht.
Wer so spielt, darf auch mal nach Hause reisen
Es kam, wie es in solchen Fällen zu kommen pflegt: England verlor das Penaltyschiessen, in das es sich mit allerletzter Kraft geschleppt hatte. So, wie es das eigentlich immer tut. Zum sechsten Mal kam das Ende an einem grossen Turnier für die Engländer am Elfmeterpunkt.
Bloss dass sich das Mitleid des neutralen Zuschauers für einmal in engsten Grenzen hielt. Wer so wenig für das Spiel tut, wie dieses Team des ehemaligen Schweizer Nationaltrainers Roy Hodgson, der tritt den Heimflug an, ohne dass viele Tränen fliessen.
Es ist eben nicht jeden Tag Chelsea. Aber es dürfte gerne jeden Tag ein wenig Andrea Pirlo sein.
Panenka, das Original
Beinahe zwei Jahre lang hatte er die Variante trainiert – und einmal hatte er sie sogar in einem Spiel der Nationalmannschaft erfolgreich versucht. Aber die grosse Stunde des Antonin Panenka schlug im Final der Europameisterschaft 1976. Im Elfmeterschiessen musste die Partie zwischen Deutschland und der damaligen Tschechoslowakei entschieden werden. Da lief Panenka gegen Sepp Maier an. Der Deutsche suchte sich seine Ecke aus, sprang – und Panenka lupfte den Ball lässig in die Tormitte (vgl. Video oben). Eine bislang nie gesehene Penalty-Variante, die den Erfinder weltberühmt und die Tschechoslowaken zum Europameister machte.
Panenka selbst erklärte danach, ihm sei es nie darum gegangen, auf besonders spektakuläre Art und Weise zu treffen. Er hatte schlicht keine Lust darauf, bei den Bohemiens Prag immer wieder die Elfmeter-Spielchen gegen Goalie Zdenek Hruska zu verlieren: «Es kam so weit, dass ich zuhause wach im Bett lag und mir überlegte, wie ich ihn schlagen könnte.» Und da kam Panenka die Erleuchtung: «Ich stellte fest, dass die Goalies meist bis zum letzten Moment warteten, um zu antizipieren, wo der Ball hinfliegen würde. Da dachte ich mir, es sei vielleicht einfacher, einen Schuss anzutäuschen und den Bal dann in die Mitte des Tores zu schiessen.» Und es hat geklappt.