Einen Versuch war es wert. Und auch wenn die Idee nicht funktioniert hat, so entlockt es Heiko Schuldt immerhin ein Lächeln, als er die Anekdote erzählt: Der Informatikprofessor und sein Team von der Universität Basel haben Videos von Fussballspielen ins Internet geladen und User gegen Geld gebeten, die verschiedenen Ereignisse während des Spiels zu erfassen: Wann wird ein Pass wohin gespielt, wann wird gefoult, wann der Ball erobert.
«Wir stellten fest, dass die meisten Teilnehmer aus Indien und Bangladesch kamen», sagt Schuldt.«Wir stellten fest, dass die meisten Teilnehmer aus Ländern stammten, in denen Fussball nicht die Sportart Nummer 1 ist, und sie offensichtlich kaum Affinität zum Fussball hatten. Mit einer anderen Sportart hätte das Experiment möglicherweise funktioniert, so aber war die Qualität der Resultate grösstenteils unbrauchbar.»
Heiko Schuldt kommt aus Karlsruhe, lebt seit 20 Jahren in der Schweiz, zwölf davon in Basel. Seit sechs Monaten läuft unter seiner Leitung an der Universität Basel das dreijährige Forschungsprojekt «StreamTeam». Dessen Ziel ist es, Fussballspiele so zu erfassen, dass aus den Daten das taktische Verhalten einer Mannschaft bewertet werden kann. Dafür braucht es vorderhand zwei Komponenten: erstens die Position der Spieler und des Balles zu jeder beliebigen Zeit und zweitens die mathematische Definition für taktische Elemente.
Finanziert von der Hasler Stiftung in Bern hat sich die Uni Basel mit der Fachhochschule Bern zusammengetan. Die Berner sind in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sport (Baspo) für den taktischen Teil zuständig. Die Basler kümmern sich um die Informatik. Will heissen: Sie übersetzen die taktischen Elemente in Codes, beispielsweise Pressing.
Nach dem Abgang von Paulo Sousa schwand das Interesse des FC Basel an «StreamTeam».
«Fragt man zwei verschiedene Trainer, was für sie Pressing bedeutet, erhält man zwei verschiedene Antworten», sagt Schuldt. Deswegen definiert das Forschungsteam den Begriff zusammen mit den Trainern des Schweizerischen Fussballverbands. Mathematisch ausgedrückt bedeutet Pressing: Die verteidigende Mannschaft läuft in Richtung der ballführenden Spieler und sie tut das mit einer bestimmten Geschwindigkeit.
Diese Richtung und Geschwindigkeit werden gemessen, aus diesen beiden Grössen entsteht ein Index, der Aussagen über die Qualität des Pressings zulässt. Pressing ist eines von mehreren taktischen Elementen, die «StreamTeam» dereinst qualifizieren will. Andere sind Abseitsfallen oder Konter.
Zudem soll das Programm eine Art Monitoring für die Ereignisse während eines Fussballspiels sein. Es soll etwa erkennen, wann Schüsse auf das Tor fliegen, Pässe zum Mitspieler oder Gegner gespielt werden oder wann der Ballbesitz wechselt.
Solche Ereignisse müssen mathematisch erfasst werden. So wird Ballbesitzwechsel anhand abgeknickter Fluglinien des Balles und starker Geschwindigkeitswechsel des Balles erkannt. Ansätze in anderen Forschungsprojekten sind Sensoren in den Schienbeinschonern, die entweder Erschütterungen oder mit Magnetspulen die Nähe des Balles erkennen und so den Ballbesitz ermitteln.
Opta, eine der grössten Firmen im Geschäft mit Sportdaten, mit der die Basler Forscher in Kontakt stehen, erfasst solche Ereignisse bereits. Aber mit menschlicher Fleissarbeit. «StreamTeam» soll die Erfassung automatisieren.
Die erfassten Ereignisse werden mit dem Video des Spiels kombiniert und über eine Suchfunktion findet ein Trainer die Szenen, die er braucht. Er kann für eine Teamsitzung also beispielsweise nach Fehlpässen seiner Innenverteidiger suchen, die über 60 Meter in das Angriffsdrittel gespielt werden. Oder er kann sich Phasen eines Spiels heraussuchen, in denen das Pressing seiner Mannschaft besonders gut war.
Obschon «StreamTeam» die Qualität von Pressing messen kann, wird das Programm nicht wie beim Schach bessere Varianten in bestimmten Szenen vorschlagen können. «Beim Schach ist der Problemraum sehr gross. Aber er ist auf 64 Felder und die genauen Bewegungsmuster der Figuren begrenzt. Im Fussball gibt es diese Begrenzung nicht, ausserdem müssen Spieler in äusserst kurzer Zeit Entscheidungen treffen», sagt Schuldt. Deswegen könne kein Programm die intuitiven Ideen eines Trainers ersetzen.
«Wir können nicht zu Testzwecken einen Wald anzünden, um die Daten eines Feuerwehreinsatzes zu erheben.»
Im Frühjahr 2015, damals war Paulo Sousa noch Trainer, führte die Universität Basel mit dem FC Basel Gespräche über eine mögliche Zusammenarbeit. «Zu einer solchen ist es aber leider nie gekommen, was eigentlich schade ist, denn der FCB verfügt auf dem Nachwuchscampus über das gleiche System wie das Baspo», sagt Schuldt. Beim Bau des Nachwuchscampus wurde auf der Brüglinger Ebene das Local Positioning Measurement System installiert.
Wie viele andere Vereine geht der FCB den Weg der Digitalisierung. Im Fussball werden derart viele Daten erfasst, dass für die Forscher die Wahl auf diese Sportart fiel. Grundsätzlich ist das Programm aber auch für andere Disziplinen anwendbar, die Forscher erarbeiten bereits eine Eishockey-Variante.
Zudem ist Sport nicht der einzige Anwendungsbereich. Überall dort, wo es mehrere Individuen zu koordinieren gilt, bei der Analyse von Gruppendynamiken, kann die Software helfen. Also beispielsweise auch bei Polizei- oder Katastropheneinsätzen. «Da ist es aber schwer, an Daten zu kommen. Und wir können nicht zu Testzwecken einen Wald anzünden, um die Daten eines Feuerwehreinsatzes zu erheben», sagt Lukas Probst, der «StreamTeam» für seine Doktorarbeit mitentwickelt.
Sobald Daten von Individuen erhoben werden, stellt sich die Frage nach dem Datenschutz. «Es stellt sich die Frage, wem die Leistungsdaten eines Spielers gehören. Beispielsweise nach einem Vereinswechsel. Die Gewerkschaften müssen sich zudem der Frage annehmen, ob ein Verein solche Daten bei Lohnverhandlungen mit Spielern verwenden darf», sagt Probst.
Noch ungeklärt ist für die Universität Basel die Frage, was mit der Software nach Beendigung des Forschungsprojekts geschehen soll. Eine Möglichkeit ist die Gründung eines Spin-offs, das das Wissen kommerziell verwertet. Grundsätzlich gehört der Code der Software der Universität, die Konzepte, wie die technische Infrastruktur funktioniert, gehören der Öffentlichkeit. Eine andere Möglichkeit sei es also, die Forschungsergebnisse von der Open-Source-Community weiterentwickeln zu lassen.
Und vielleicht kommt ja dereinst nochmals ein Kontakt mit dem FC Basel zustande. Professor Heiko Schuldt hätte nichts dagegen. Denn in seinen zwölf Jahren in Basel ist ihm der lokale Fussballverein ans Herz gewachsen.
«StreamTeam» auf der Seite der Universität Basel