Auf der Suche nach dem Schalter im Gehirn

Nach einer schwachen Saison hat sich Simon Ammann im Sommer die Sinnfrage gestellt. Doch dann hat sich der 32-jährige Schweizer entschieden und so intensiv trainiert, wie kaum einmal zuvor. Die Problemzone Ammanns scheint allerdings im Kopf zu liegen.

Der Schweizer Skispringer Simon Ammann auf dem Weg zu seinen ersten Trainings auf der Sommerskischanze in Einsiedeln, am Donnerstag, 8. August 2013, anlaesslich der Pressekonferenz des FIS Sommer Grand Prix in Einsiedeln. (KEYSTONE/Sigi Tischler) (Bild: Keystone/Sigi Tischler)

Nach einer schwachen Saison hat sich Simon Ammann im Sommer die Sinnfrage gestellt. Doch dann hat sich der 32-jährige Schweizer entschieden und so intensiv trainiert, wie kaum einmal zuvor. Die Problemzone Ammanns scheint allerdings im Kopf zu liegen.

Es gibt Tage, da wäre Simon Ammann gerne wieder der unbekannte und unbekümmerte Skispringer aus Unterwasser in der Ostschweiz, der sich um nichts scheren muss. Und nicht der berühmte Weltmeister, Weltcup-Gesamtsieger und vierfache Olympiasieger, den jeder auf der Strasse auf den ersten Blick erkennt.

So stolz der 32-Jährige auf seine Triumphe und Trophäen auch ist, hier und jetzt, im Spätherbst seiner erfolgreichen Karriere, fällt ihm die glänzende Vergangenheit mitunter auf den Kopf. «Es kann manchmal auch hinderlich sein, wenn du genau weisst, wie sich das Gewinnen anfühlt», erzählt Simon Ammann, «vor allem in den Phasen, wenn es gerade nicht läuft.»

In einer solchen Dürreperiode befindet sich der Schweizer Routinier, der am Wochenende in Klingenthal (Deutschland) in seine 17. Weltcup-Saison abhebt, nun schon seit längerer Zeit. Der Letzte seiner 20 Weltcup-Siege ist längst verjährt (März 2011 in Lahti), im vergangenen Winter war dem erfolgsverwöhnten Ammann nur zwei Mal der Sprung auf das Podest gelungen.

«Die letzte Saison hat mich aufgefressen»

Mitunter musste man die Ergebnisliste sogar von hinten lesen, um auf den Namen des vierfachen Olympiasiegers zu stossen: 42. (Garmisch/Partenkirchen), 40. (Bischofshofen), 35. (Trondheim), 25. (Kuopio und Innsbruck) – die Enttäuschungen und schlechten Resultate flogen dem einstigen Überflieger nur so zu. Noch vor den letzten Weltcup-Springen zog Ammann die Reissleine und machte einen weiten Bogen um die Schanzen. «Die letzte Saison hat mich richtig aufgefressen», gesteht Ammann.

Der Schweizer durchlebt gerade ein typisches Skispringer-Schicksal, das irgendwann noch fast jedem Adler widerfahren ist. In kaum einem anderen Sport liegen Höhenflug und Absturz, Top und Flop, Hero und Zero so nahe beisammen wie im Reich der Lüfte, in dem winzige Details schon die grössten Auswirkungen haben können.

Schon im Anlauf haben 0,5 Stundenkilometer weniger oder mehr enormen Einfluss auf die spätere Weite, beim Absprung am Schanzentisch entscheiden Zentimeter; und in der Sprungphase kann eine leichte Brise Wind dem Athleten unsichtbare Flügel verleihen oder ihn auf den Boden der Tatsachen holen – und wenn dieses Zusammenspiel zufällig einmal perfekt funktioniert, dann bleibt immer noch der grösste Unsicherheitsfaktor: der Kopf des Athleten.

Das Skispringen wird zum mühsamen Puzzlespsiel

«Am besten springst du gewöhnlich, wenn du nicht viel nachdenkst und einfach alles automatisch abläuft», erklärt der österreichische Seriensieger Gregor Schlierenzauer, 23, der mit 50 Erfolgen mittlerweile der erfolgreichste Springer der Weltcup-Geschichte ist. Das ist meist leichter gesagt als getan. Denn was im Erfolgsfall so simpel und souverän aussieht, schlägt im Formtief in das genaue Gegenteil um. Dann wird das Skispringen zum mühseligen Puzzlespiel.

Auch Simon Ammann, der bei seinen Olympiasiegen meist wie in Trance die Konkurrenz überflügelte und die Souveränität in Person war, suchte in den letzten Wintern bei sich vergeblich den Schalter für sein Gehirn. «Wenn ein Springer in Form ist, dann macht es oft den Anschein, dass ihn nichts umhauen kann. Aber wenn es so zäh zugeht wie bei mir zuletzt, dann beginnt man sich automatisch zu hinterfragen. Weil: Jeder Skispringer ist in einer gewissen Art sensibel.»

Die ständigen Material- und Regeländerungen machen die Sache auch nicht unbedingt leichter. Schon gar nicht für einen Routinier wie Simon Ammann, der sich in seiner langen Laufbahn bereits öfters mit Reformen konfrontiert sah und sich praktisch im Zwei-Jahres-Rhythmus neu erfinden musste. «Das Skispringen von Vancouver 2010 ist mit dem Skispringen von heute eigentlich nicht mehr vergleichbar», erklärt der 32-Jährige.

Der Simon Ammann, der 2002 Olympia-Gold gewann, wäre heute chancenlos

Mit der Einführung der hautengen Sprunganzüge im vergangenen Winter ist das Skispringen zwar fairer geworden, weil es nunmehr keine Grauzonen mehr gibt, allerdings wurde es für die Protagonisten selbst zugleich auch schwieriger. Denn die eng anliegenden Anzüge verzeihen im Gegensatz zu den weiten Overalls von früher nicht den geringsten Fehler.

Zudem sind zunehmend die sprungkräftigen Athleten gefragt. Junge Leichtgewichte, eines wie es Ammann bei seinen ersten beiden Olympiasiegen in Salt Lake City (2002) noch gewesen war, haben nicht mehr den Hauch einer Chance. «Du kannst eigentlich nichts mehr kaschieren und darfst dir nichts mehr erlauben», berichtet Ammann, «das treibt dich in die Enge und raubt dir manchmal Meter und Nerven.»

Der Schweizer hat sich bislang eher schwergetan mit der Anpassung an das neue Federkleid der Adler. «Man braucht schon eine Top-Abstimmung, um weit springen zu können. Diejenigen, denen das gelingt, werden einen grossen Spass auf der Schanze haben. Die anderen werden weiter extrem leiden.»

«Für mich schliesst sich ein Kreis»

Um seine ohnehin schon phänomenale Karriere noch einmal mit einer weiteren Olympiamedaille zu krönen, hat Simon Ammann nach Wochen des Haderns («ich habe mir schon das eine oder andere Mal die Sinnfrage gestellt») im Sommer so intensiv trainiert wie selten zuvor. Er spürt, dass er nur so an seine glänzenden Zeiten anschliessen kann, er weiss, dass er sich im Landeanflug auf das Karriereende befindet und die Winterspiele in Sotschi wohl sein letztes Karriere-Highlight sind. «Für mich schliesst sich der Kreis», meint Ammann, «aber es fällt nicht einfach, dieses Leben abzuschliessen.»

Zu sehr macht ihm das Skispringen, trotz aller Rückschläge, immer noch Spass. Zu spannend und herausfordernd ist der Wettkampf mit den meist jüngeren Herausforderern, zu sehr hat ihn der Spitzensport geprägt und geformt. So lassen sich auch die vergangenen Winter («ich hatte die letzten drei Jahre das Gefühl, dass nur wenig weitergeht») leichter verkraften. «Ich habe genug Erfolge feiern dürfen, sodass ich jetzt auch einmal die andere Seite der Medaille kennenlernen kann. Das ist Teil des Lebens.»

Eine Rechnung will Ammann noch begleichen

Doch es sind nicht nur die Olympischen Spiele in der Heimat seiner russischen Frau Yana, die den 32-Jährigen antreiben. Eine Rechnung will Ammann unbedingt noch begleichen, einen Makel hat die erfolgreiche Karriere immer noch. Mit einem Sieg bei der prestigeträchtigen Vierschanzen-Tournee würde der Schweizer in den elitären Kreis der Skispringer aufsteigen, die den Grand-Slam gewonnen haben, also Olympiagold, WM-Gold, Gesamtweltcup und eben die Tournee.

Dieses Kunststück ist bislang erst Matti Nykänen (Fin), Jens Weissflog (D), Espen Bredesen (Nor) und Thomas Morgenstern (Ö) gelungen. Für einen Triumph bei seiner Hassliebe Tournee würde Ammann sogar auf eine weitere olympische Goldmedaille verzichten. «Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn ich die Tournee gewinnen könnte.»

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