Auf der Lagoa Rodrigo de Freitas kann der Wind während desselben Rennens aus drei verschiedenen Richtungen blasen. Für die Ruderer werden die Finals deshalb etwa so schwierig wie für Formel-1-Fahrer ein Regenrennen. Der leichte Schweizer Vierer hofft auf gleiche Bedingungen für alle – und auf eine Medaille.
«Bom dia, was für ein schöner Tag», ruft ein Radfahrer an der Lagoa Rodrigo de Freitas. Wer wollte ihm da widersprechen? Der letzte Morgendunst verzieht sich hinter der Christusstatue, die Sonne glitzert über dem spiegelglatten See in bester Stadtlage, überall Jogger und Kinder, sogar ein paar Enten, was in den schmutzigen Gewässern der Olympiastadt sonst wahrlich keine Selbstverständlichkeit ist. Eine Idylle. Die für Ruderer jederzeit zum Biest mutieren kann.
Eine gute Stunde später steigt Magdalena Lobnig verschwitzt aus ihrem Boot. Inzwischen weht eine leichte Brise, und die österreichische Einer-Europameisterin hat wieder etwas gelernt. Wo Bahn 1 am Samstag die grössten Wellen hatte und damit die schwierigsten Bedingungen, bot sie nun den besten Windschatten.
Launischer Wind
Immerhin, die Lagune war «ruderbar», wie die Athleten das nennen. Wenn heute Mittwoch die Finals beginnen, könnte das anders werden, denn für die nächsten beiden Tage ist starker Wind vorhergesagt. Wie am Sonntag, als alle Rennen abgesagt wurden. Oder mindestens wie am Samstag, als gerudert wurde, «aber es mit Rudern nichts zu tun hatte».
So nennt Lobnig die Szenen von schlagenden Wellen, vollgelaufenen Booten, Schaumkronen und von dem kenternden serbischen Zweier, der dem Parcours auf Anhieb den Ruf als launisch, schrullig und nachgerade gefährlich bescherte. Ein Ruf, den er völlig zu Recht geniesst, wie der brasilianische Zweier-Ruderer William Giaretton bestätigt. «Während desselben Rennens kann der Wind aus drei Richtungen kommen», sagt der Lokalmatador. «Wer auf Überraschungen hofft, ist hier genau richtig.»
Wer in der Lagoa erfolgreich sein will, so sagen es Rios Ruderer gern, der muss ein Tänzer sein.
Dafür steht auch schon die Geschichte des Orts. So erstaunlich es klingen mag, das Rudern hat eine grosse Tradition in Rio de Janeiro. Flamengo, Botafogo und Vasco da Gama – drei der vier grossen Fussballvereine der Stadt heissen mit vollem Namen «Clube de Regatas», Regattaklubs, weil sie einst von Ruderern gegründet wurden. Das Vereinsheim von Flamengo ist gleich neben der Lagune, und die Vorzeigeboote, die an der Olympiastrecke für Kinder und andere Einsteiger aufgebaut wurden, sind nicht umsonst rot-schwarz bepinselt – die Klubfarben von Brasiliens populärstem Verein.
Wer in der Lagoa erfolgreich sein will, so sagen es Rios Ruderer gern, der muss ein Tänzer sein. Sich von Wind und Wellen umschmiegen lassen, nicht verunsichern. Um das Bild also gleich mal auf den Schweizer Leichtgewichtsvierer ohne Steuermann anzuwenden: Es gab da schon verschiedene Tänze. Lucas Tramèr, Simon Schürch, Simon Niepmann und Mario Gyr gewannen vor zwei Monaten das vom Wind verblasene EM-Finale im deutschen Brandenburg. Andererseits hatten sie in Rio beim ersten Vorlauf am Samstag so ihre Probleme mit den Verhältnissen.
Die Athleten des leichten Schweizer Vierers hoffen, dass ihr Medaillentraum nicht im Winde verweht. (Bild: Keystone/Peter Klaunzer)
Ein dritter Platz hinter Italien und China liess da nicht nur bei manchen Beobachtern die Alarmglocken schrillen – auch im Boot selber wurde die Niederlage als «ein bisschen ein Schock» aufgenommen, wie Tramèr am Dienstag verrät. Da hat sich die Fehleranalyse gerade ausgezahlt, die Anspannung in einem aggressiven Start einem Halbfinalsieg vor Dänemark und Griechenland entladen. «Unsere Racheaktion», sagt Tramèr, der wie Niepmann in Basel lebt und für den Basler Ruder-Club startet. Vor allem an sich selbst. «Wir haben den Vorlauf analysiert und uns in Frage gestellt.»
Vor ihrem für Donnerstag angesetzten Finale liegen die Schweizer als amtierende Weltmeister und Weltcup-Führende also wieder auf Kurs. «Wir wissen, was wir können und wollen das bestmögliche Rennen auspacken, um die anderen auch zu schlagen», sagt Tramèr.
Insbesondere er und sein Basler Klubkollege Niepmann haben ihre Nervenstärke ja schon oft bewiesen. Zwischen ihrer Viererkarriere fuhren sie 2013 und 2014 zwei Jahre als Duo und räumten dabei ebenfalls alle Titel ab. Nun sieht Tramèr die Dänen als den schärften Rivalen, gefolgt von Neuseeland. Und dann ist da ja noch der Wind.
«Wir können nur hoffen, dass die Bedingungen für alle gleich sind», sagt er. Logisch, Turbulenzen schaden ja am ehesten denjenigen, die in ruhigem Wasser die Schnellsten sind. «Wenn der Wind parallel zu den Bahnen läuft, dann ist alles gut», erklärte Tramèr. Sobald er ein bisschen von der Seite komme, vor allem im Zielgelände, könne er wegen den Zuschauertribünen zu ungleichen Bedingungen führen.
Lektionen der Lagoa
Vielleicht hilft es da besonders, wenn man so gut vorbereitet ist wie Mahe Drsydale. Der neuseeländische Einer-Olympiasieger von London wurde schon zwei Wochen vor Eröffnung der Spiele täglich an der Lagune gesehen, er trainierte bei allen Bedingungen, auch bei den «unruderbaren». Womöglich wäre ihm nicht passiert, was der australischen Einer-Weltmeisterin Kim Brennan am Samstag widerfuhr. Womöglich ist alles aber auch nur einfach eine Sache von Glück und Pech oder von einer Art mystischem Instinkt für die Natur, wie bei einem Regenfahrer in der Formel 1.
Brennan jedenfalls zog in ihrem Vorlauf die falschen Reifen auf, pardon: entschied sich für das leichtere ihrer zwei Boote. Wäre es so windstill geblieben, wie es noch beim Aufwärmen war – sie wäre locker durchgerudert. Doch mit dem Start kam eine Brise auf, die Wellen schlugen auf ihr Boot, es lief voll, es wäre beinahe gesunken. Hinter Konkurrentinnen aus Mexiko und Simbabwe rettete sich als Dritte gerade noch in die nächste Runde. Es war Brennans erste Niederlage seit zwei Jahren, und jetzt weiss sie: in der Lagoa immer das schwere Boot. Egal, wie friedlich die Enten plantschen. Am Dienstag gewinnt auch sie ihren Vorlauf und strahlt: «Ich bin dankbar für die Lektion.»
Wann kanns losgehen?
Die Vorlaufbesten könnten in den Finals «gesetzt» werden, eine Praxis, die schon vor vier Jahren in London angewandt wurde. Das bedeutet, dass sie nicht wie sonst automatisch auf den mittleren Bahnen platziert werden, sondern in der Regel innen, vor die schützenden Tribünen. Wenn es nicht genau andersherum weht. Beziehungsweise wenn man das überhaupt sagen kann. Was nutzt schon das Reglement, wenn sich die Winde dreimal pro Rennen drehen können?
Die Jury wird einen schweren Job haben in den nächsten Tagen. Nach der Kritik vom Wochenende beruft der Weltruderverband am Dienstagnachmittag noch mal eigens eine spontane Pressekonferenz ein: Man werde Mittwochfrüh Ortszeit nach der aktuellen Wettervorhersage entscheiden, ob die ersten Finals (a) wie geplant morgens oder (b) nachmittags oder (c) erst mal gar nicht gerudert werden. Weil ab nächster Woche die Kanusportler die Lagune übernehmen, bleibt nur ein Ausweichtag. Zwei windige Tage sind aber angekündigt. Auf der Lagoa wartet ein wilder Tanz.