Aus der vermeintlichen «Todesgruppe» ist ein Krisengipfel geworden

In Mönchengladbach träumte man seit Jahren von der Rückkehr in die Königsklasse. Nun ist ausgerechnet jetzt der Wurm drin bei Ex-Basler Granit Xhaka und seinem Team. Doch auch die Gruppengegner sind mehrheitlich mies in die Saison gestartet.

Lucien Favre ist nicht der einzige Coach in der Gruppe D, der mit Kopfschmerzen auf den Saisonauftakt in der heimischen Liga zurückschauen muss.

(Bild: AP Photo/Martin Meissner)

In Mönchengladbach träumte man seit Jahren von der Rückkehr in die Königsklasse. Nun ist ausgerechnet jetzt der Wurm drin bei Ex-Basler Granit Xhaka und seinem Team. Doch auch die Gruppengegner sind mehrheitlich mies in die Saison gestartet.

Manchmal ist so ein anderer Wettbewerb ja eine Chance. Keine Altlasten, neue Hoffnungen – neues Glück? Vor dem Champions-League-Auftakt mögen darauf kurioserweise vor allem die Teams jener Gruppe spekulieren, die nach der Auslosung als stärkste ausgemacht wurde, mit Vertretern aus den vier besten Ligen: Juventus Turin, Manchester City, Borussia Mönchengladbach, Sevilla FC.

Jenseits von Englands Tabellenführer Manchester City rangieren die Teilnehmer in ihren nationalen Championaten derzeit folgendermassen: Juventus, ein Punkt, 16. Platz. Sevilla, ein Punkt, 18. Platz. Mönchengladbach, null Punkte, 18. Platz. Die vermeintliche «Todesgruppe» wird zum Krisengipfel, jedenfalls in Sevillas stimmungsvollem Estadio Ramón Sánchez Pizjuán, wo andalusische Kacheln den Haupteingang verzieren und am Dienstag die Mönchengladbacher gastieren.

Xhakas Sprüche für den Stammtisch

Sie hat es zweifelsohne am ärgsten erwischt, das verrät schon das Vokabular. Anstelle von Vorfreude auf die erste Teilnahme an der 1992 gegründeten Champions League, anstelle von Beschwörungen der glanzvollen Europapokal-Vergangenheit sind derzeit solche Parolen zu vernehmen: «Wir müssen uns alle den Arsch aufreissen, wieder mehr über den Kampf kommen, fussballerisch ein bisschen nachlassen. Wir müssen so rennen, dass wir nach dem Spiel kotzen müssen.»

So spricht kein Wutbürger auf der Tribüne, so spricht nach vier Niederlagen zum Saisonauftakt der Spieler Granit Xhaka, der andererseits auch vergleichsweise leicht reden hat: der ehemalige Basler war beim jüngsten 0:3-Heimdebakel gegen den Hamburger SV gesperrt und wird es auch in Sevilla sein, wegen einer Gelb-Roten-Karte beim Europa-League-Aus vorige Saison gegen denselben Gegner. 

Xhakas Trainer ist bekanntlich auch Schweizer. Aber er würde so nie sprechen. Das ist nicht Lucien Favres Stil. Auch deshalb ist er vielen immer ein bisschen suspekt gewesen in Deutschland, wo zumindest der Stammtisch in solchen Situationen genau solche Sprüche hören will. Als Favre vor sechs Jahren bei Hertha BSC mit einer ähnlichen Situation konfrontiert war wie jetzt in Gladbach, wurde sein vermeintlich zu weiches Krisenmanagement schnell als Grund ausgemacht, warum er die negative Dynamik nicht stoppen konnte. Nach sechs Niederlagen am Stück, ebenfalls im ersten Saisonviertel, wurde er entlassen.

Club hält an Favre fest

Populär ist im Umfeld des Klubs derzeit aber eher die Parallele zu einem anderen Absturz: dem von Borussia Dortmund, das vorige Saison auf dem letzten Platz in die Winterpause ging. «Wir brauchen zumindest nicht glauben, dass uns das nicht passieren kann», sagte Verteidiger Tony Jantschke – noch bevor er, von Favre in einem misslungenen Experiment zum Mittelfeldmann umfunktioniert, gegen Hamburg das erste Gegentor verschuldete. 

«Selbst die Krise ist polyvalent» titelte die «Rheinische Post» danach unter Verwendung eines Wortes, das in Deutschland als Vintage-Favre gilt. Die Anspielung auf die Verantwortung des Trainers ist überdeutlich, wie auch der Hinweis auf die vielschichtigen Ursachen der Misere. Die scheint sich andererseits durchaus nach klassischen Abläufen abzuspielen: Abgang von zentralen Akteuren, insbesondere Xhakas Partner im Mittelfeld, Christoph Kramer, dazu gehäuftes Verletzungspech, unter anderem bei den Flügelspielern Patrick Herrmann und Fabian Johnson sowie den Verteidigern Martin Stranzl und Álvaro Domínguez, und die Herausforderung Champions League im Hinterkopf. Misserfolge, Verunsicherung, Blockade. «Unfassbare Angst» sah zuletzt Sportdirektor Max Eberl, der sich derzeit bewusst in den Vordergrund schiebt, um Favre das Sprücheklopfen zu ersparen.  

Die Loyalität des Managers ist ein Unterschied zum Berliner Herbst von 2009, als Favre im Machtvakuum nach dem Ausscheiden der vormaligen Überfigur Dieter Hoeness kaum Schutz erfuhr. Als «absolut unrauswerfbar» bezeichnet Eberl seinen Trainer. So apodiktisch hat man das selbst in der mit Treueschwüren bekannt grosszügigen Fussballszene noch selten gehört. 

Sevillas Stürmer treffen nicht

In Sevilla sitzt Unai Emery als zweifacher Europa-League-Sieger eher noch fester auf der Bank als Favre. Ausserdem haben die Andalusier ja schon gepunktet und zuletzt in Levante wenigstens 1:1 gespielt. Die Leistung allerdings, insbesondere in der vom Abstiegskandidaten dominierten zweiten Hälfte, lässt bei der Presse schon ähnlich die Alarmglocken schrillen wie in Mönchengladbach. «Sevilla hat ein Mittelstürmerproblem», urteilt das «Diario de Sevilla». «Seine Angreifer treffen nicht, aber der Torwart hält auch nichts, die Abwehr verteidigt nicht, das Mittelfeld spielt keine brauchbaren Pässe und die Aussen kommen nicht über die Flügel.»

Ein bisschen Übertreibung war da schon dabei – zumal mit Daniel Carriço und Nico Pareja die Innenverteidigung ausfällt (wie nun auch Stammtorwart Beto) und Trainer Unai Emery im Mittelfeld unter anderem die Stammspieler Éver Banega und José Antonio Reyes aus dem Team rotiert hatte. Sevillas wahres Problem liegt tatsächlich im Angriff, wo die Neuzugänge Fernando Llorente und Ciro Immobile bislang nicht an den zum AC Mailand abgewanderten Carlos Bacca heranreichen. In drei Ligaspielen erzielte Sevilla erst ein Tor, darunter keines von einem Angreifer.

Wer stürmt den Krisengipfel? 

Für den schnellen, wuchtigen Umschaltfussball Emerys ist die Figur des Mittelstürmers ähnlich wichtig wie für den auf Kontrolle bedachten Stil Favres die zentrale Mittelfeldachse. Und auch beim dritten Krisenklub der Gruppe lässt sich eine Menge über die personellen Umstellungen erklären – selbst eine Juventus ersetzt nicht eben mal den Verlust von Andrea Pirlo, Arturo Vidal und Carlos Tévez.

Im Vergleich zu seinen Mitbewerbern scheint Sevilla bei dieser Konstellation allerdings im Vorteil – aus Erfahrung. In noch stärkerem Masse als etwa Mönchengladbach sind die Südspanier auf Kreativität und Zielsicherheit im Transfergeschäft angewiesen. Jahr für Jahr verlieren sie ihre besten Spieler, wie nach dem Europa-League-Sieg 2014 Ivan Rakitic. Fast genauso zuverlässig schaffen sie es zurück in die Erfolgsspur, wie vorige Saison, als ohne Rakitic die Titelverteidigung in der Europa League gelang. Und gerade im Mittelfeld scheint das Gerüst mit dem vorige Saison überragenden Abräumer Grzegorz Krychowiak, den routinierten Éver Banega und José Antonio Reyes oder den spanischen Auswahlspielern Vitolo und Iborra robust genug, um jede Form von Totalabsturz zu verhindern.

Für Mönchengladbach scheinen die Prognosen da schwieriger. In jedem Fall ist es schon jetzt ein Jammer, dass die jahrelang sehsüchtig erwartete Rückkehr auf Europas Premiumbühne so überschattet wird von den Qualen des Alltags: Lieber als in Sevilla, sagt Manager Eberl, würde er am Wochenende in Köln gewinnen.

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