Welch ein Triumph für den FC Barcelona im Bernabeau: Real Madrid kassiert eine 0:4-Demütigung und erntet dafür den grösstmöglichen Protest seiner Anhänger.
Mit Abpfiff schwenkten die Zuschauer rhythmisch weisse Taschentücher. Selbst wer nicht viel von spanischer Fussball-Folklore versteht, konnte diese Reaktion nicht falsch interpretieren. Es ging den verbliebenen Anhängern von Real Madrid nach dem 231. Clásico nicht um Tanz und Gesang. Es ging vielmehr um den grössten Protest, den das Estadio Santiago Bernabéu seit langem gesehen hat.
Die 80’000 im streng bewachten Fussball-Tempel hatten schliesslich auch der grössten Demütigung seit Jahren beigewohnt. 0:4 (0:2) ging Real gegen den Erzrivalen FC Barcelona unter, dabei spielte der die erste Stunde sogar ohne Lionel Messi.
Niemand rettete seine Haut in dem Desaster der Madrilenen. Nicht Cristiano Ronaldo, der apathische Superstar. Nicht Trainer Rafael Benítez, dessen Aufstellung den Katalanen all jenen Platz im Mittelfeld gab, den sie so lieben und nutzen zu verstehen. Und nicht der allmächtige Präsident Pérez. «Florentino, dimisión», forderten die Anhänger, bis sie von der extra laut aufdrehten Musik aus den Stadionlautsprecher übertönt wurden. Es war ein Abend, nach dem sich in Madrid einiges ändern wird. Ändern muss.
Rafael Benítez bleiben nur noch Durchhalteparolen
«Es war keine Frage der Einstellung», betonten zwar unisono Luka Modric, Benítez und sogar Gäste-Trainer Luis Enrique. Aber Real machte auch nicht unbedingt den Eindruck, für seinen Trainer zu spielen, mit dem sich mehrere Schwergewichte wie Ronaldo, Kapitän Sergio Ramos oder James Rodríguez in den letzten Wochen schon ihre Scharmützel geliefert haben.
Benítez sollte eine härtere Gangart gegenüber den Stars einschlagen, lautete der Wunsch von Pérez bei der Entlassung seines beliebten Vorgängers Carlo Ancelotti. Jetzt bleiben dem Coach nur noch Durchhalteparolen: «Wir müssen zusammen stehen, unsere Fehler analysieren und arbeiten.»
Nichts half dem als Defensivstrategen verschrienen Madrilenen die wohl «politisch» motivierte Entscheidung, auf den populären Abräumer Casemiro zu verzichten und mit dem Mittelfelddreieck Modric, Toni Kroos und James hinter dem Sturmtrio Ronaldo, Gareth Bale und Karim Benzema so offensiv auszustellen wie einst Ancelotti. Es war trotzdem nicht dieselbe Elf. Unter dem Italiener schlug Real die Katalanen vorige Saison zuhause 3:1 und unterlag auswärts unglücklich 1:2.
Das Bernabeu fällt in eine Schockstarre
Diesmal zeigte Real nach einer schaurig-schönen Klavierversion der «Marseillaise“ während der, nun ja, «Schweigeminute» zu Ehren der französischen Terroropfer eine Partie in dunklem Moll. Die Spieler schafften es nie auf das Emotionslevel, das ihre Fans beim Auspfeifen von Barça-Verteidiger Gerard Piqué erreichten.
Before the Clásico the Bernabéu held a minute’s silence for the victims of the recent terror attacks. #ElClasico https://t.co/ltzQjJFeht
— Real Madrid C.F. (@realmadriden) 21. November 2015
Weil er sich gern über Real lustig macht, ist der Abwehrmann für die «Madrididstas» ein rotes Tuch. Piqué selbst bezeichnet Buhrufe des Bernabéu gegen ihn jedoch als «Sinfonie». Man darf ihm das Vergnügen glauben – so souverän waren seine Spieleröffnungen.
Sie führten beispielsweise zum Solo des brillanten Messi-Ersatzes Sergi Roberto, der seinen Spaziergang durch das Mittelfeld mit einer No-look-Ablage auf Luis Suárez veredelte. Wie der Uruguayer den Ball direkt mit dem Aussenrist verwandelte, war die erste katalanische Delikatesse des Abends.
Ausserdem war es die Führung und das Einfallstor für alle Zweifel, die Real schon die ganze Saison über plagen. Das Bernabéu fiel in eine Schockstarre, über der es fortan sogar vergass, Piqué auszupfeifen – und nur zur Verwünschung der eigenen Mannschaft erwachte.
Das Real-Mittelfeld: Unberührte Landschaften
Denn das Muster des ersten Tores wiederholte sich immer wieder. Barcelona fand im Mittelfeld unberührte Landschaften, durch die vor allem Andrés Iniesta gekonnt den Ball geleitete. Als «Weltkulturerbe» bezeichnete sein Trainer Luis Enrique später den Regisseur, den bei seiner Auswechslung auch ein Teil des heimischen Publikums beklatschte.
Kurz vor der Pause setzte er Neymar in Szene, ein einziger Pass, und Reals Abwehr war ausgehebelt. Der Brasilianer überwand Navas. Reals Torwart konnte seine Wunder aus dem bisherigen Saisonverlauf nicht wiederholen. Nur dank ihm liegen die Madrilenen in der Tabelle nicht längst schon mehr als die sechs Punkte hinter Titelverteidiger Barcelona, die sie nach ihrem gestrigen Debakel aufweisen.
Für Ivan Rakitic heisst das noch nichts: »Wir sind sehr glücklich und geniessen den Moment. Aber wir wissen auch, dass erst November ist.»
Ivan Rakitic im Bernabeu: Nur eine Momentaufnahme, sagt der Ex-Basler. (Bild: Reuters/Paul Hanna)
Iniesta – und mal nicht Neymar oder Suárez
Nach dem ersten Taschentuch-Konzert zur Halbzeitpause brachte Real tatsächlich so etwas wie ein Aufbäumen zustande. Es beinhaltete eine vergebene Chance von Linksverteidiger Marcelo und dauerte exakt neun Minuten.
Dann erzielte Iniesta das schönste von vier Toren eines «denkwürdigen Abends für alle Barça-Fans» (Luis Enrique). Der kleine Spielmacher durchschritt wieder das Mittelfeld, spielte dann mit Neymars Hacke Doppelpass und jagte den Ball aus knapp 20 Metern in den Winkel.
#FCB spielt #RMA im eigenen Stadion an die Wand. Hier das 3:0 durch Iniesta. #ElClasico pic.twitter.com/hIdRk2dknN
— Tschütteler (@Tschutteler) 21. November 2015
Es war das erste der letzten 19 Ligatore, die nicht Neymar oder Suárez erzielten – so erfolgreich hatten die zwei verbliebenen Komponenten von Barças Stumdreizack in den letzten zwei Monaten den verletzten Messi vertreten. Als dieser dann endlich wieder auf den Platz durfte, war noch genug Zeit, um seinerseits mit einem Solo durch das Mittelfeld und Zusammenspiel mit Jordi Alba das 0:4 durch Suárez einzuleiten.
«Real steht in Ruinen»
Danach bekam der eingewechselte Isco noch die Rote Karte für ein Frustfoul an Neymar – beklatscht vom Publikum, das darin offenbar die «Eier» sah, die es vorher immer wieder von seinen Spielern eingefordert hatte.
Auf der anderen Seite mokierte sich Piqué fürchterlich über seinen Mitspieler Munir, weil der ihm die Gelegenheit zum 5:0 wegschnappte – und damit zur Einstellung des Barça-Rekordsieges in Madrid aus dem Jahr 1973/74.
Derweil reagierte Pérez auf der Ehrentribüne schulterzuckend auf die Anfeindungen des Anhangs, als wollte er sagen: Was habe ich damit zu tun? Real Madrid, titelt das Sportblatt «As», «steht in Ruinen.»