Ja, schon klar. «Der Clásico ist etwas Besonderes», sagt Lionel Messi: »Aber Tabellenzweiter ist Atlético». In der Dialektik der hochwertigsten Fussballrivalität des Planeten ist dieser Satz zum einen eine Tatsachenbehauptung. Zum zweiten eine kalkulierte Gemeinheit. Schadet ja nicht, vor dem direkten Duell mit Real Madrid am Samstag um 13 Uhr mitteleuropäischer Zeit noch mal das Klassement in Erinnerung zu rufen: Barcelona führt mit sechs Punkten vor Atlético. Und mit elf vor Real, das ein Spiel weniger absolviert hat.
Wer das im Sommer prophezeit hätte, wäre nicht ernst genommen worden. Da hatte Real die Katalanen im spanischen Supercup auseinandergenommen. 3:1 auswärts, 2:0 zu Hause. Wobei die Madrilenen noch gnädig vorgingen. «Zum ersten Mal fühle ich mich Real unterlegen», sagte der aus vielen Kraftproben erfahrene Verteidiger Gerard Piqué, und in der Hauptstadt jubilierten Fans und Medien: Der seit Jahren ersehnte Machtwechsel, dauerhaft, nicht bloss für eine Saison, das Ende der Hegemonie des Messi-Barça – es schien endlich soweit.
Ernesto Valverde hat das Haus rekonstruiert
In Barcelona gibt es erfahrene Clásico-Interpreten, die sagen, Real habe an jenem Augustabend eine historische Chance verpasst. Nur dank Reals Verzicht auf die totale Demontage des grossen Rivalen habe das bereits durch den Abgang von Neymar angeschlagene Barça einen Rest an Selbstwertgefühl konservieren können. Und nur deshalb habe der neue Trainer Ernesto Valverde nicht gleich jenen Mindestkredit verloren, den er brauchte für seinen Wiederaufbau.
Schicht für Schicht hat Valverde das Haus seitdem rekonstruiert und so solide abgedichtet, dass bis heute keine Partie mehr verloren ging. Dabei kam ihm letztlich sogar die Verletzung des unter viel Gezerre für über 100 Millionen Euro aus Dortmund abgeworbenen Flügelstürmers Ousmane Dembélé zupass. Nur mit Messi und Luis Suárez als obligatorischen Angreifern liess Valverde oft ein 4-4-2 spielen, nach Jahren des unverhandelbaren 4-3-3. Eine Folge davon: Barcelona musste erst sieben Gegentore beklagen.
«Wir haben an Balance gewonnen», sagte Mittelfeld-Allrounder Ivan Rakitic kürzlich. Der Ex-Basler hat sich für seinen neuen Coach als ebenso unverzichtbar erwiesen wie für dessen Vorgänger Luis Enrique. Als einziger Akteuer neben Messi stand der 29-Jährige in allen Liga- und Champions-League-Spielen auf dem Platz.
«Vielleicht fehlt jetzt ein bisschen die Show.»
«Ich glaube, ich habe Valverdes Sicht auf den Fussball sehr gut verstanden», sagt er, «deshalb kann ich beitragen, was ich beitrage». Rakitic empfindet die Niederlagen im Supercup rückblickend als willkommenen Weckruf, räumt aber den bisweilen geringen Unterhaltungswert des neuen Barça ein: «Vielleicht fehlt jetzt ein bisschen die Show.»
Der Clásico zur asiatischen Primetime
Am Samstag wäre ein guter Moment, das Spektakel wiederzubeleben. Mehr denn je schaut die Welt auf Madrids Estadio Santiago Bernabéu, denn gekickt wird zur asiatischen Primetime. Für die gut 1,3 Milliarden Inder wird es später Nachmittag sein, für die knapp 1,4 Milliarden Chinesen acht Uhr abends. Erstmals wird damit auch der Clásico zu einer der Anstosszeiten gespielt, mit denen Spaniens Liga den globalen Marktführer Premier League angreifen will. Samstag, 13 Uhr, und Sonntag, 12 Uhr – für ein Land, das alles sonst ein bisschen später macht als das übrige Europa, bedeutet das einen kleinen Kulturschock. Doch die Spanier merkten nach den Erfahrungen der Engländer, wie einträglich so ein Mittagstermin sein kann.
Anders als die italienische Serie A, die in dieser Saison erstmals bis zum Dreikönigstag durchspielt, unterlässt die Primera División vorerst jedoch die Attacke auf ein weiteres britisches Alleinstellungsmerkmal. Über die Feiertage und um Silvester herum ruht der Ball. Am 3./4. Januar geht es mit dem Pokalachtelfinale weiter.
Bis dahin sollte es auch so ausreichend Stoff für Debatten am Christbaum geben. Für die Spanier fügt sich der erste Weihnachts-Clásico in frenetische Stunden. Angesichts der katalanischen Regionalwahlen am Donnerstag und der traditionsreichen Weihnachtslotterie am Freitag beschliesst er eine Highlight-Dauerschleife. Der frühe Mittagstermin macht es dabei auch insofern allen Recht, als er selbst einem Argentinier wie Messi die Zeit gibt, rechtzeitig in der Heimat zu sein.
Wie Dauerrivale Cristiano Ronaldo hat Messi im Kalenderjahr wettbewerbsübergreifend 53 Tore erzielt, keines so denkwürdig wie jenes beim letzten Ligaduell im April. In der Nachspielzeit krönte er da ein fulminantes Offensivspektakel beider Teams mit dem 3:2-Siegtreffer, und ebenso unvergessen ist, wie er dem Madrider Publikum danach mit beiden Händen sein ausgezogenes Trikot präsentierte.
Die Fans liessen die Geste in einer Art Schockstarre über sich ergehen, erst in den folgenden Tagen knüpfte sie die Madrider Presse in die Reihe der Demütigungen, die Real in den Liga-Clásicos zuletzt oft erfuhr. Sechs der letzten neun Duelle im Bernabéu hat Barça gewonnen, darunter mit so denkwürdigen Ergebnissen wie 6:2 (2009) und 4:0 (2015). Es war damit auswärts erfolgreicher als zu Hause im selben Zeitraum (fünf Siege).
Real will den Anti-Klimax verhindern
Während der genesene Dembélé erstmals seit September wieder im Barça-Kader stehen könnte, fehlt es also auf keiner Seite an Revanchemotiven. Vor allem aber setzt die Tabelle Real unter Zugzwang. Für die Madrilenen gilt es, den Anti-Klimax zu verhindern, das mit fünf Titeln erfolgreichste Kalenderjahr der Klubgeschichte mit einem frühen Ende aller Hoffnungen auf den erneuten Meistertitel zu beenden.
Die soeben gewonnene Klub-WM allein rettet letztlich keinen Anhänger über die kurze spanische Weihnachtspause – auch wenn sie immerhin einer dieser Polemiken dient, die vor keinem Clásico fehlen dürfen. Die Frage lautet, ob Barça dem Erzrivalen beim Einlaufen durch ein Spalier die Ehre erweisen sollte oder ob die Interkontinentaltrophäe für so eine Würdigung zu mickrig ist. Am Samstag wird man die Antwort erfahren, schon zur Mittagsstunde.
Mit elf Punkten Vorsprung geht der FC Bayern München in der Bundesliga in die Winterpause (bis 12.1.). Ähnlich vorentschieden wirken auch die Titelrennen in der Premier League (Freitag und Samstag im Einsatz und anschliessend das übliche Mammutprogramm über Weihnachten und bis Silvester) sowie in Frankreichs Ligue 1 (Fortsetzung: 12.1.). Echte Spannung strahlt derzeit nur die Serie A aus, die am 22./23.12. sowie am 29./30.12. noch zwei Runden im alten Jahr absolviert: