«Ein Riesenkampf, aber kein Riesenschritt.» Für Boxtrainer Angelo Gallina ist der Auftritt seines Schützlings Arnold Gjergjaj gegen einen ehemaligen Weltmeister das logische Resultat jahrelanger Aufbauarbeit.
Angelo Gallina strecken sich dieser Tage viele Hände entgegen. Beim Mittagessen im Restaurant, draussen auf der Strasse, an abendlichen Veranstaltungen, alle wollen dem Boxtrainer gratulieren und die Hand schütteln. Gratulieren zum grossen Erfolg, zum grossen Kampf, den sein Schützling Arnold «The Cobra» Gjergjaj am 21. Mai in London gegen den ehemaligen Weltmeister David «Hayemaker» Haye bestreiten wird.
Gallina freut sich über die Aufmerksamkeit. Im Grunde aber wundert er sich über das plötzlich erwachte Interesse an seinem Sport und seinem Boxer. «Alle reden davon, was der Kampf gegen Haye doch für einen Riesenschritt darstelle, dabei stimmt das gar nicht. Es ist ein Riesenkampf, aber kein Riesenschritt.» Vielmehr sei die Affiche die logische Konsequenz des jahrelang vorangetriebenen Aufbaus des Prattler Profiboxers Gjergjaj.
Die drei Phasen des «Projekts Weltmeister»
Bereits 2008, als Gjergjaj aus dem Amateur- in den Profibereich wechselte, sei der Zeitplan fixiert gewesen. «Das Ziel lautete stets: ein grosser Kampf bis 2016, noch besser ein Titelkampf», sagt Gallina. In drei Phasen hat Gallina das «Projekt Weltmeister» eingeteilt, denn nichts weniger ist das Ziel. Vier Jahre dauerte die Aufbauphase. In einer zweiten Phase ging es darum, sich über zwei, drei Jahre als Profi zu etablieren, einen ersten kleineren Titel zu erringen und in der unabhängigen Boxrangliste Boxrec nach vorne zu kämpfen. Heute rangiert Gjergjaj dort auf Platz 23.
Mit dem Kampf gegen Haye ist die Kobra nun nach acht Jahren in die dritte, die finale Phase gestartet. Ein grosser Titel kommt damit in Reichweite. Der Hayemaker bezeichnete das Duell im Interview mit der TagesWoche sogar als einen «WM-Ausscheidungskampf».
Die Suche nach Sponsoren war härter als jeder Treffer, den Gjergjaj im Ring einstecken musste.
Acht Jahre, das ist eine lange Zeit. Eine Zeit voller Entbehrungen, hartem Training, Schmerzen, Verletzungen. «Hätten Arnold und ich irgendwelche Ansprüche gestellt, wären wir heute nicht, wo wir sind», sagt Gallina. Es war auch eine Zeit von fehlender Anerkennung. Die Suche nach Sponsoren war härter als jeder Treffer, den Gjergjaj im Ring einstecken musste. Gjergjaj wurde lange Zeit vor allem von seiner Familie und vom Boxclub Basel unterstützt. Er und Gallina bezogen in dieser Zeit keinerlei Entschädigung. «Empathie war immer viel vorhanden, nur liess den Worten kaum jemand Taten oder einen Check folgen», sagt Gallina. «Ich habe oft für Arnold gelitten. Das Boxbusiness kann sehr erniedrigend sein, das wollte ich ihm ersparen.» Umso mehr freuten sie sich über kleine Zuwendungen, wie etwas das Couvert, in dem ein Gönner dem Team Cobra eine 50er-Note zukommen liess.
Sportvermarktungsexperten winkten ab, für Schwergewichtsboxen gebe es in der Schweiz keinen Markt. Zu klein sei das Land, zu klein die Aufmerksamkeit, zu klein die Aussichten auf Renommee und Rendite. Inzwischen haben sich doch eine Handvoll Sponsoren gefunden, die ihr Logo auf die Shorts der Kobra drucken wollen. Zum ersten Mal kann Gallina in der Vorbereitung auf einen Kampf ein bisschen Geld in die Hand nehmen und damit qualifizierte Sparringpartner einfliegen.
Wäre es Gallina und Gjergjaj nur um den WM-Titel gegangen, hätten sie keine acht Jahre warten müssen. In der schillernden Welt des Boxens wimmelt es von Weltmeistern. Eine Vielzahl von Verbänden verleiht eine ebenso grosse Zahl an Titeln. Wie gross die Titelinflation ist, zeigt sich daran, dass viele dieser Weltmeistertitel heute vakant sind. Wer genügend Geld mitbringt, darf sich morgen Weltmeister nennen. Wirklich anerkannt sind bloss die vier grössten Verbände. Zu diesen «Big Four» zählen die WBA, WBC, IBF und WBO. Innerhalb Europas wird ausserdem die EBU zu den glaubwürdigen Verbänden gezählt.
«Jetzt zählt nur noch ein grosser Titel.»
Gjergjaj hält aktuell den EBU-Titel der nicht EU-Staaten. Doch eine weitere Titelverteidigung wird es kaum geben. «Das haben wir abgehakt, jetzt zählt nur noch ein grosser Titel», sagt Gallina. Für Gjergjaj und Gallina waren die halbseidenen Titel nie interessant. «Unser oberstes Gebot war stets die sportliche Glaubwürdigkeit.» Kriterium Nummer eins sei bei der Suche nach neuen Gegnern für die Kobra eine einzige Frage gewesen, erklärt Gallina: «Bringt uns dieser Kampf in der Rangliste nach vorne?» Am schnellsten nach vorne geht es, indem man gegen ältere Gegner mit hoher Punktzahl kämpft. Doch ausgerechnet das war nicht möglich, da die Schweiz als einziges Land eine Ü35-Regelung kennt, die Kämpfe gegen ältere Boxer verbietet.
So ist Gjergjaj nur langsam, aber dafür stetig in die Top 30 des weltweiten Schwergewichtboxens aufgerückt. Mit seiner Kampfbilanz von 29 Siegen in 29 Kämpfen war der Boxer dabei stets ein attraktiver Gegner. Viele sehr gute Kämpfer wollten ihn einladen, um ihm seine erste Niederlage zuzufügen. Wie sagte David Haye, als er den Medien in London seinen nächten Gegner vorstellte? «Es ist immer eine besondere Motivation, einem Boxer die Null aus der Kampfbilanz zu streichen.»
Die Lockrufe windiger Gestalten
An Angeboten mangelte es Gjergjaj schon früher nicht, nur waren diese meist nicht überzeugend. «Wir bekamen viele Anfragen. Doch entweder waren sie so kurzfristig angesetzt, dass uns die Zeit für eine seriöse Vorbereitung fehlte. Oder sie waren aus finanzieller Sicht nicht attraktiv», erzählt Gallina. Auf dem langen Weg nach London versuchten immer wieder windige Gestalten, auf den Erfolgszug aufzuspringen. Vor ein paar Jahren etwa wurde Gjergjaj von einem albanischen Boxpromoter umgarnt, der ihn mit grossen Versprechen zu sich locken wollte. Doch die Kobra widerstand der Versuchung des versprochenen schnellen Erfolgs und schnellen Geldes und hielt am Vertrag mit Gallina fest.
Im Januar 2016 wäre um ein Haar ein Kampf gegen den Amerikaner Deontay Wilder zustande gekommen, die Weltnummer 4 und aktueller WBC-Champion. Es hätte ein spektakulärer Kampf werden können. Doch Wilder entschied sich gegen Gjergjaj und für den Polen Artur Szpilka. Wenig später zeichnete sich das Angebot von David Haye ab. Die erste Kontaktaufnahme fand über einen Mittelsmann statt, bald aber verhandelten die beiden Lager direkt miteinander. Die Anfrage aus Grossbritannien war anders als die meisten früheren Anfragen. Sie kam frühzeitig, sodass Gjergjaj genügend Zeit zur Vorbereitung hatte, und auch finanziell ist der Kampf attraktiv. Das Team Cobra soll angeblich eine Gage von 200’000 Franken erhalten.
Das ist eine schöne Stange Geld, wichtiger aber bleibt der sportliche Wert dieses Kampfes. Wie hoch der ist, wird sich erst in London zeigen. Wie sagt Angelo Gallina: «Abgerechnet wird im Boxen immer erst nach dem letzten Gong.»