Im Madrider Stadtderby steht für Real nicht nur der Halbfinal der Champions League auf dem Spiel. Weitere Peinlichkeiten können sich die Königlichen gegen die Matratzenmacher aus dem Süden der Metropole nicht leisten. Das weiss auch Carlo Ancelotti, der Meistertrainer, dem sie in Spanien eine «linke Hand» attestieren.
Es ist schon absurd. Da räumt einer seit Jahren zuverlässig Titel ab – 17 insgesamt, darunter dreimal die Champions League – und Meisterschaften in Italien, England, Frankreich. Und trotzdem steht Carlo Ancelotti jetzt vor zwei Spielen, die wohl über seine Zukunft bei Real Madrid entscheiden, vor allem aber über seine Fertigkeiten in der Königsdisziplin der Trainerkunst: der Strategie. Fällt ihm diesmal irgendetwas ein? Oder schwemmt diese unheimliche Welle seinen guten Ruf fort?
Sechs sieglose Derbys in einer Saison hat Ancelotti fabriziert – eine historische Schreckensbilanz. 4:12 lautet das Torverhältnis, im auswärtigen Estadio Vicente Calderón wurde noch gar nicht getroffen. Dort steigt heute das Hinspiel im Viertelfinal der Champions League.
Rückspiele: 21./22.4. | Halbfinals: 5./13.5. | Final in Berlin: 6. Juni | |
Champions League, Viertelfinals | |
---|---|
Atlético Madrid–Real Madrid | Di, 20.45/SRF2 |
Juventus Turin–AS Monaco | Di, 20.45 |
FC Porto–Bayern München | Mi, 20.45/SRF2, ZDF |
Paris St-Germain–FC Barcelona | Mi, 20.45 |
Nach Meisterschaft, Pokal und Supercup ist dieses Spiel die letzte Chance für das viermal so umsatzstarke Real, die Reihe der Peinlichkeiten in Europas neuem Klassiker zu beenden. Andernfalls, schreibt Branchenführer «Marca» routiniert, «wird Ancelotti den letzten Nagel in seinen Sarg gehämmert haben und mehr als ein halbes Dutzend Spieler seine letzten Monate in Weiss erleben».
Die Matratzenmacher ärgern die Königlichen
Für wen in der Revanche des letzten Finals mehr auf dem Spiel steht, ist also keine grosse Frage. Atlético spielt noch einmal gegen die Pein der Erinnerung eines bis zur 93. Minute gewonnenen Endspiels, kann aber sonst nur gewinnen.
So lange in der Liga Platz drei verteidigt wird und folglich wieder die direkte Champions-League-Qualifikation gelingt, kommen die «colchoneros», die «Matratzenmacher» aus dem ärmeren Süden der spanischen Hauptstadt, ihrem Ziel wieder ein Stück näher: sich strukturell als Grossklub zu etablieren. Kürzlich stieg einer der reichsten Männer Chinas als Partner ein. Gegen 20 Prozent der Aktienanteile will der Immobilien-Tycoon Wang Jianlin neben seinen Kinos und Hotels künftig auch die Fussballmarke Atlético entwickeln.
Auf der anderen Seite hat Real seit dem Wochenende wieder bessere Chancen auf die Meisterschaft, denn nach Barcelonas 2:2 in Sevilla beträgt der Rückstand nur noch zwei Punkte. Ein weiteres Remis der Katalanen, und die Madrilenen könnten dank des gewonnenen direkten Vergleichs (3:1, 1:2) vorbeiziehen. Seit dem engagierten Auftritt bei der unglücklichen Niederlage in Barcelona herrscht wieder Optimismus; drei Siege seither gegen Laufkundschaft der Liga widerlegten den Eindruck nicht, haben fürs Erste jedoch nur anekdotische Bedeutung.
Real hat diese Saison schon so viele Stimmungsschwankungen erlebt wie Teenager in der Foto-Lovestory. Auf eine Krise zum Saisonstart – samt verlorenem Supercup gegen Atlético und Ligapleite (1:1, 0:1, 1:2) – folgte eine Siegesserie von 22 Spielen, ehe nach Weihnachten drei Schockwellen mit steigenden Ausschlägen das Estadio Santiago Bernabéu heimsuchten: das Pokal-Aus gegen Atlético im Januar (0:2, 2:2), das 0:4 beim Stadtrivalen im Februar sowie der Verlust der Ligaspitze und Beinahe-Crash in der Champions League gegen Schalke im März.
Reals Strategie kennt nur das «BBC»
Das Publikum, das damals die eigene Mannschaft auspfiff, meldete sich beim letzten Heimspiel gegen Aufsteiger Eibar (3:0) mit eindeutigen Wünschen für den Dienstag zu Wort: «El martes, échale huevos», Eier sollen die Spieler zeigen. Intensität, wäre der moderne Fussball-Begriff, doch neben ihr entschieden eben bisher auch Taktik und Coaching zugunsten von Atlético.
BBC genannt: Reals Angriff mit Gareth Bale, Karim Benzema und Cristiano Ronaldo (von links) beim Training in Valdebebas. (Bild: Reuters/SUSANA VERA)
Gegen Reals 4-3-3 mit mässig abwehrinteressierten Stürmern setzt Diego Simeone auf ein 4-4-2, das ihm permanente Überlegenheit im Mittelfeld sichert. Anders als bei Ancelotti mit seiner «BBC» aus Bale, Benzema und Cristiano Ronaldo bespielen ihm seine Stürmer Antoine Griezmann und Mario Mandzukic oder Fernando Torres auch nach hinten viel Raum, weshalb Simeone im Zentrum bisweilen sogar doppelt so stark steht. Wurde es dennoch mal knapp, entschied der Argentinier das Spiel durch seine Einwechslungen.
Bei Real sucht man hingegen vergeblich nach Variationen; obwohl das einzig überzeugende Spiel gegen Atlético in Ancelottis gesamter Amtszeit vorige Saison im Pokalhalbfinale gelang – als Bale verletzt fehlte. «Die BBC ist unverhandelbar», lautet dennoch Ancelottis Mantra. Auch beim siebten Mal in dieser Saison wird er es aller Voraussicht nach mit der Taktik versuchen, die «El País» einen «strategischen Fatalismus» nennt – und die ihm beim sechsten Mal ein 0:4 eintrug.
Die präsidiale Direktive: Bale spielt immer
Es war nach eigener Auskunft «das schlechteste Spiel seit ich hier bin». Ganz sicher hat es Ancelotti geschadet wie kein anderes. Dass er fünf verletzte Stars ersetzten musste, gilt nicht als schuldmildernd, wenn die eigenen Ersatzspieler mehr individuelle Qualität mitbringen als die meisten Stammkräfte des Gegners. Präsident Pérez schimpfte in der Loge über eine Demütigung und machte es sich fortan zur Angewohnheit, den Spielern in periodischen Abständen selbst ins Gewissen zu reden. Die begonnenen Gespräche zur Verlängerung von Ancelottis bis 2016 laufendem Vertrag wurden auf Eis gelegt.
Klubinsider versichern das Naheliegende: Der ehemalige Mittelfeldspieler Ancelotti wisse selbst am besten, dass er die Spiele im Mittelfeld verliert. Aber er müsse sich eben den Bedingungen fügen – einem Kader, in dem selbst die hinteren Mittelfeldspieler gelernte Zehner sind wie Toni Kroos und Luka Modric, seine zentrale Achse. Plus der präsidialen Direktive, dass 100-Millionen-Mann Gareth Bale immer zu spielen habe.
Ob derlei Unterordnung wider besseres Wissen einem Spitzentrainer wirklich mehr schmeicheln würde als ein taktischer Irrtum, ist freilich eine andere Frage. «Carletto», zuvor bereits verdächtig loyaler Mitarbeiter von Silvio Berlusconi bei Milan, Roman Abramowitsch bei Chelsea und den katarischen Scheichs bei Paris St-Germain, betont nicht umsonst öffentlich, sich noch nie eine Aufstellung diktiert haben zu lassen.
Ancelottis linke Hand
Einen «Mann mit Glück» nennt sich der Italiener mit der feinen Selbstironie, die ihn auszeichnet. In Wirklichkeit ist er vor allem ein Mann der Gelassenheit. So phlegmatisch sie ihn in den Duellen mit Atlético bisweilen erscheinen liess, so sehr schützt sie ihn vor Aktionismus.
Zwei Viertelfinals werden zur Schicksalsfrage: Real-Trainer Carlo Ancelotti, der Mann der grossen Gelassenheit und Selbstironie. (Bild: Reuters/PAUL HANNA)
Auch dieser Tage strahlt er wieder diese Ruhe eines Pokerspielers aus, der auch beim schwierigsten Blatt allenfalls seine berühmte Augenbraue hochzieht. So wie in jenem Finale 2014 von Lissabon, als es gegen ein ersatzgeschwächtes Atlético ja auch schon so gut wie schief gegangen war, bevor Sergio Ramos den Ausgleich köpfte und in der Verlängerung noch ein 4:1 heraussprang. War das nun eine gute Trainerleistung? Ohne diesen Kopfball wäre Ancelotti jedenfalls nicht mehr im Amt.
Acht Spiele ohne Sieg gegen den Stadtrivalen darf man sich nicht erlauben
Seine Spieler würden es bedauern. Sie schätzen seine Menschlichkeit, seine Besonnenheit, sein Einfühlungsvermögen – die «mano izquierda», wie man auf Spanisch sagt: die «linke Hand». Während Kritiker immer wieder die harte rechte Pranke fordern, hat sie nach den Verwerfungen unter Vorgänger José Mourinho überhaupt erst die Basis dafür geschaffen, dass das Glück von Lissabon diese Mannschaft finden konnte.
Sie hat ihn weit gebracht, sie schützt ihn vor dem unter Startrainern so verbreiteten Narzissmus, sie lässt ihn oft genug schlau über andere triumphieren, die sich für schlauer halten. Aber acht sieglose Spiele gegen denselben Gegner aus der gleichen Stadt in einer Saison – die könnte sich nicht erlauben, wer als ganz Grosser gelten will.
Carletto? Bleibt trotzdem Carletto. Wie er das Spiel angehe, ob er sich schon über alles im Klaren sei, wurde er nun gefragt. «Ja», antwortete er. «Fehlt nur noch das Ergebnis.»