Im Finale der Champions Leage treffen zwei Stadtrivalen aufeinander: Atlético Madrid kämpft in Lissabon gegen das im Derby übermächtig erscheinende Real. Dabei bietet sich Atlético die Chance eine Wunde zu heilen, die schon lange klafft.
«Gesucht: Würdiger Rivale für ein anständiges Derby»: So stand es auf einem Transparent, mit dem die Anhänger von Real Madrid im November 2011 ihre Stadtnachbarn von Atlético verspotteten. Auf dem Rasen wurde das unzähligste Kapitel einer sieglosen Serie von Atlético gegeben, deren Ursprung noch ins letzte Jahrtausend zurückreichte.
Doch wie es manchmal so ist, wenn die Machtverhältnisse besonders zementiert scheinen, explodieren sie mit einem besonders großen Knall. Nach 24 erfolglosen Versuchen beendete Atlético vor einem Jahr seine gruselige Strähne auf flamboyanter Bühne: im Bernabéu, im spanischen Pokalfinale.
Nichts wie es war, aber alles gleich
Seitdem ist wenig, wie es war, im Fußball der spanischen Hauptstadt. Oder besser gesagt: Es ist eher wieder so wie früher. Ausgeglichen. Bis Real mit der Generation um Alfredo Di Stefano in den späten 1950er Jahren zur führenden kontinentalen Fußball-Macht aufstieg, waren sich die beiden großen Klubs der Stadt immer auf Augenhöhe begegnet. In Madrid sind die Fanlager bis heute etwa gleich groß. Heute erleben sie ein Finale auf noch schillernderer Bühne, in der Champions League.
Zwischen 70 000 und 120 000 Anhänger aus Madrid werden am Finalort Lissabon erwartet, die meisten ohne Karten, und die meisten werden die rund 600 Kilometer zwischen den beiden Hauptstädten im Auto zurücklegen. Zwei rivalisierende Konvois mit der identischen Route – vom ursprünglichen Vorhaben, die Tankstellen nach Fangruppen zuzuteilen, wurde jedoch Abstand genommen. Man vertraut auf die Vernunft und darauf, dass es sich zwar um eine etablierte Rivalität handelt, aber um keine Stammesfehde wie bei Celtic und den Rangers in Glasgow.
Bürgertum vs. Proletariat
Die Unterschiede in der Identität beider Vereine sind gleichwohl leicht zu erkennen. Idealtypisch steht Real für das bürgerliche und weltläufige Madrid, Atlético für das proletarische, passionale. Dass es sich dabei nicht nur um Stereotype handelt, lässt sich beim Besuch der Heimspiele bestätigen.
Real spielt in einem noblen Tempel im Bankenviertel nordöstlich des Zentrums, Atlético in einer rostigen Schüssel südwestlich, deren Tribüne über die Stadtautobahn gebaut ist. Wenn das Bernabéu oft als Oper bezeichnet wird, handelt es sich beim Calderón eher um eine Schrammelkneipe. Eine allerdings mit lauter und unverwüstlicher Stammkundschaft.
Atlético ist die Abgrenzung zum Stadtrivalen wichtiger als umgekehrt, und es ist nicht ganz falsch zu sagen, dass der «Antimadridismus» dem Klub sogar in die Wiege gelegt wurde. Baskische Zuwanderer gründeten den Verein 1903 als Reaktion auf einen epischen Sieg von Athletic Bilbao im spanischen Pokalfinale gegen Real Madrid.
Die Filiale nannte sich anfangs ebenfalls Athletic, ehe sie nach der Fusion mit der Luftwaffe im nationalistischen Franco-Regime in Atlético Aviación umbenannt wurde. Seit 1947 heißt der Klub Atlético de Madrid, aber die Entstehungsgeschichte hat sich für alle Zeiten im Sprachgebrauch niedergeschlagen. Fans wie Medien sprechen in der Regel von «El Atleti». Derweil Real in Spanien einfach nur «El Madrid» genannt wird.
Real sieht’s gelassen
Dieses blickt zumeist etwas gelassener auf die lokale Rivalität, weil Überlegenheit eben auch generös machen kann, wenn sie so unangefochten ist wie die eigene im Europapokal der Landesmeister. Real begründete durch ihn seinen Mythos: Di Stéfano, Puskas, das weiße Ballett, die fünf Titel in den ersten fünf Editionen.
Bei Atlético hingegen begründete er «el pupas», das «Aua»: So nennt sich der Opferdiskurs, dem die Fans sich hingaben, seit Katsche Schwarzenbeck im Finale 1974 in der 120. Minute mit einem untypischen Fernschuss zum 1:1 für Bayern München ausglich, das im dadurch fälligen Wiederholungsspiel 4:0 triumphierte.
Atléticos Führungstor hatte Luis Aragonés erzielt. Aragonés ist dieses Jahr gestorben. Sein Name wird heute auf die Trikots gestickt sein, bei Atléticos ersten Finale im Königswettbewerb seit damals. Eine schon fast kitschige Konstellation also, um das Aua für alle Zeiten zuzupflastern.
Das bequeme Verlierer-Image
Dabei hatten sie es sich inzwischen schon gemütlich gemacht mit dem Verlierer-Image, den ewigen Erfolgen Reals trotzig ein «Gefühl, das man nicht erklären kann» entgegengestellt, wie der Barde Joaquín Sabina in der Vereinshymne zum 100. Geburtstag sang: «Um es zu verstehen, muss man einmal im Calderón geweint haben.» Bei Atlético werden sie diese Zeiten nicht vergessen. Dauerkartenbesitzer aus den Zweitligasaisons zwischen 2000 und 2002, dem Tiefpunkt der Vereinsgeschichte, wurden bei der Verteilung der begehrten Finaltickets als erste berücksichtigt.
Auch wegen solcher Geschichten wird ganz Spanien heuten den Rot-Weißen den Sieg gönnen, mit Ausnahme der Real-Anhänger natürlich, aber auch die können sich eigentlich nicht beklagen: Sie haben ja endlich wieder einen würdigen Stadtrivalen.