Sie sind beide Argentinier, sie wollen beide angreifen und sie müssen beide gewinnen. Am Samstag (22 Uhr MEZ) stehen Chile und Argentinien im Finale der Copa América. Ihre Trainer Jorge Sampaoli und Gerardo Martino stammen aus der gleichen Fussballschule, was die Sache für beide nicht einfacher macht.
Wenn der Schiedsrichter ein Prinzipienreiter ist, dann braucht man als Trainer aussergewöhnliche Ideen. Es war an einem Nachmittag im September 1995. Jorge Sampaoli trat mit seinem Club Alumni aus der Stadt Casilda in der argentinischen Regionalliga gegen 9 de Julio aus Arequito an. Wie wild geworden sprang er an der Seitenauslinie entlang, brüllte, kommentierte jede Schiedsrichterentscheidung, bis es diesem zu bunt wurde, und er den renitenten Trainer vom Platz stellte. Es dauerte einige Momente, ehe der sich zusammenriss, das Stadion verliess und sofort auf einen Baum kletterte, um von dort oben seiner Mannschaft weiterhin Anweisungen zu geben.
Liveübertragungen im Free-TV gibt es im deutschsprachigen Raum keine. Neben den einschlägigen Streaming-Quellen gibt es eine Liste von Stationen weltweit, die das Spiel anbieten. Ausserdem:
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Sampaoli war damals ein junger Mann. Seinen Traumberuf Fussballer musste er wegen einer schweren Verletzung aufgeben, er wurde dann Beamter beim Standesamt, was ihn aber nicht glücklich machte. Über diese Zeit sagte er einmal: «Ich dachte den ganzen Tag an nichts anderes. Ich meine das wörtlich, an überhaupt nichts anderes!» Also kündigte er und suchte sein Glück; Alumni aus Casilda war seine erste Station.
Danach wurde er Trainer bei der Jugendabteilung des argentinischen Clubs Newell’s Old Boys, er trainierte in Peru und Ecuador, kam schliesslich zum Team von Universidad Católica in Santiago de Chile. Dort gewann er die Copa Sudamericana, die englische «Times» fragte sich damals, ob dieses Team wohl noch interessanter sei als der FC Barcelona. Schliesslich übernahm er 2012 das Nationalteam von Chile und machte aus ihm eine der konsequentesten Mannschaften in Südamerika. Die Markenzeichen: immer in Bewegung, riskantes Pressing, permanente Attacke.
Am Sonntag steht der 55-jährige Sampaoli vor dem bislang wichtigsten Spiel seiner Karriere: Dem Finale der Copa América im Nationalstadion von Santiago de Chile. Den Rivalen kennt er in- und auswendig. Es ist Argentinien, trainiert von einem Mann, der auch nur eins will: angreifen. Gerardo Martino, 52, genannt Tata, stammt aus der selben Denkschule wie Sampaoli. Auch er war bei Newell’s Old Boys in Rosario war, zunächst als offensiver Mittelfeldspieler, später, in der Saison 2013 als Trainer, wurde er mit Newell’s argentinischer Meister.
Die Bielsa-Jünger
Bei Newell’s stiessen sie beide auf den Fussball-Feingeist Marcelo Bielsa. Martino feierte als Spieler mit ihm 1991 die Meisterschaft. Sampaoli verehrte Bielsa als Jugendtrainer. Von ihm haben sie das 4-3-3-System übernommen, das zu einem 3-4-3 werden kann. Von ihm haben sie gelernt, wie man nach Balleroberung überfallartig angreift und dabei nur scheinbar die Ordnung verliert. Von ihm haben sie sich abgeschaut, dass jedes Detail wichtig ist.
Der Lehrmeister (Marcelo Bielsa, links) und seine Schüler Gerardo Martino und Jorge Sampaoli. (Bild: Reuters)
So verbietet Sampaoli seinen Spielern während der Copa América Alkohol und Limonade. Im Trainingslager gibt es nur Fruchtsäfte und Wasser. Und Martino beendet das Training erst dann, wenn die Spielzüge so klappen, wie er sie sich am Abend zuvor ausgedacht hat.
Bielsa wird bei Newell’s in Rosario wie ein Heiliger verehrt. Er wurde als Fan zum Trainer, dann Meister, sein Ausruf «Newell’s Karacho!» machte ihn zur Legende. Heute ist das Stadion nach ihm benannt. Ehrlicherweise muss man sagen, dass der 60-jährige Bielsa in seiner Karriere nicht viel gewonnen hat. Aber er hat dem Fussball eine Spielweise geschenkt, die für ihn unverhandelbar ist: permanenter Angriff.
Bielsa ist einer der kompromisslosesten Trainer überhaupt. Sein Atletic Bilbao fiel in der Europa League 2012 wie eine wilde Reiterhorde über Manchester United her. Sein Olympique Marseille beendete mit mittelmässigen Spielern in der vergangenen Saison nach einer grandiosen Hinrunde die Ligue 1 auf dem vierten Platz.
Der einsichtige Martino und der obsessive Sampaoli
Als Spieler war Martino für Bielsa eine der Stützen der Mannschaft. 1991 war er 29 Jahre alt, erfahren und einer, zu dem die Jungen aufschauten. Als Trainer holte er mit Clubs in Paraguay drei Titel, dann wurde er dort Nationaltrainer und schaffte es 2011 mit wenig talentierten Kickern ins Endspiel der Copa América. Nur beim FC Barcelona scheiterte er in der Saison 2013/2014 auf der Trainerbank. Später gab er zu, dass das vielleicht eine Nummer zu gross für ihn war.
Sampaoli ist der weniger erfahrene der beiden, dafür ist er obsessiv. Als er noch in der Regionalliga war, fuhr er mit dem Auto die 400 Kilometer nach Buenos Aires, um sich beim Training der Nationalmannschaft mit einem Feldstecher an den Zaun zu stellen. Er wollte sehen, wie die taktischen Übungen aussehen. Als Jugendtrainer bei Newell’s hat er heimlich die Ansprachen von Bielsa aufgenommen und sie auf seinem Walkman beim Joggen abgehört.
Jorge Sampaoli feiert an der Seitenlinie im Semifinal gegen Peru den Einzug Chiles in das Endspiel um die Copa America. (Bild: Reuters/RICARDO MORAES)
Da verinnerlichte er Sätze wie diesen: «Ich will immer in der Hälfte des Gegners spielen, schnell den Ball erobern, da ich dann mehr Zeit habe, um offensive Spielzüge zu entwickeln.»
Genau das versucht er umzusetzen und kann dabei in Chile praktischerweise auf das Werk seines Idols aufbauen. Bielsa trainierte Chile von 2007 bis 2011. Bei der WM im vergangenen Jahr schied Sampaoli erst im Viertelfinale gegen Brasilien aus, davor schickte er den Weltmeister Spanien nach Hause.
Chile läuft seit 99 Jahren der Copa hinterher
Nach diesen Erfolgen startete Chile mit grossen Erwartungen in die Copa América. Doch Sampaoli musste lernen: Ein Turnier vor heimischem Publikum bedeutet Druck. Vor 99 Jahren traten die Chilenen zum ersten Mal bei der Copa América an. Gewonnen haben sie nie. Dieses Mal soll, ja muss es klappen. Wer sich bei der WM die Achtung der Experten aus der ganzen Welt erspielt hat, der kann zu Hause auch Meister werden. Oder nicht?
Erkennbar ist, dass Sampaoli dem Titelgewinn ein wenig die Schönheit seines Spiels geopfert hat. Im Viertelfinal besiegte seine Mannschaft Uruguay knapp mit 1:0. Chile ackerte, rannte pausenlos gegen die dicht gestaffelte uruguayische Defensive an, sie gaben nie auf. Aber der Sieg kam erst, als der Mainzer Gonzalo Jara am Hintern von Uruguays Stürmer Edinson Cavani herumfummelte und dafür von diesem eine sanfte Ohrfeige kassierte. Doch Jara ging zu Boden, als hätte ihn Wladimir Klitschko mit Wucht getroffen. Cavani sah die Rote Karte, Uruguay war neutralisiert – und schied aus.
Eine ehemaliges Basler Element in der chilenischen Nationalmannschaft: Marcelo Diaz (links) – Spitzname: das Motörchen – im Halbfinal gegen den Peruaner Jefferson Farfan. (Bild: Reuters/MARCOS BRINDICCI)
Im Halbfinale musste sich Chile gegen Peru quälen. Und das obwohl der Frankfurter Carlos Zambrano auf peruanischer Seite bereits in der 20. Minute Rot bekam. Am Ende stand es dank zweier Tore von Eduardo Vargas 2:1, wobei er bei einem klar im Abseits stand. «In diesem Spiel haben wir unsere Form verloren. Defensiv hatte die Mannschaft Probleme, den Ball zu erobern. Normalerweise gelingt uns das schneller. Unsere Ungeduld behinderte uns», sagte Sampaoli hinterher. Aber er sagte auch: «Der Traum beginnt erst.»
Argentinien gegen Chile – der Wunschfinal
Der Traum ist das Endspiel gegen Argentinien. Mit Chile und Argentinien stehen sich die beiden besten Mannschaften des Turniers gegenüber. Argentiniens Martino hatte wie Sampaolis Chile einen schweren Start. Ein 2:2 gegen Paraguay in der Gruppenphase, Elfmeterschiessen gegen Kolumbien – für den WM-Finalisten, dessen Angreifer Lionel Messi, Sergio Agüero, Carlos Tevez und Gonzalo Higuaín Woche für Woche in Europa Angst und Schrecken verbreiten, war das ein unerwartet harter Weg.
Und Martino musste sich fragen, warum es seiner Mannschaft nicht gelingt, Tore zu schiessen. Selbst Messi wunderte sich: «Es ist merkwürdig, wie schwer es mir fällt, in der Nationalmannschaft zu treffen.»
Aber die Erleichterung kam im Halbfinale gegen Paraguay. Und da zeigten die Argentinier, dass sie in der Vorwärtsbewegung nicht nur die schnellste und passsischerste Mannschaft des Turniers sind, sondern auch das Toreschiessen nicht verlernt haben. Sie mussten nur ein bisschen üben. Die Achse Lionel Messi (Barcelona), Angel di María (Manchester United) und Javier Pastore (PSG) funktionierte zum ersten Mal reibungslos. Zwar schoss Messi wieder kein Tor, war aber praktisch an allen Toren des 6:1-Triumphes irgendwie beteiligt.
Gegen Paraguay, das den Basler Angreifer Derlis Gonzalez früh nach einem rüden Foul von Di Maria verlor, lief es bei Argentinien bis auf einen Aussetzer perfekt. Die Verantwortung für das Gegentor, bei dem die Innenverteidiger bei der Spieleröffnung den Ball verloren, übernahm der Trainer – und schob es auf die Angriffslust der Spieler: «Es ist richtig, dass wir unter Druck geraten sind und unsere Verteidiger in Eins-gegen-Eins-Situationen gerieten: Aber wenn wir diese erste Drucksituation überstehen, haben wir die Chance, ein Tor zu machen», sprach der Mann, der noch in Barcelona Defensivmann für Angreifer brachte, um ein Ergebnis zu verwalten.
Die Warnung an die Chilenen
Argentinien hat im Halbfinale seine Form gefunden. Und Chile wurde «in jedem Spiel immer besser», sagt der ehemalige FCB-Spieler Marcelo Díaz.
Am Samstag steht die Entscheidung an. Im Finale treten zwei Trainer gegeneinander an, die sehr genau wissen, wie der andere denkt. Der eine ist ein Draufgänger, der zum Pragmatiker wurde, der andere ein Pragmatiker, der weiss, dass keiner seine Mannschaft stoppen kann, wenn sie draufgängerisch spielt. Sie werden beide mit einem 4-3-3-System auflaufen. Sie werden beide den Ball haben wollen. Sie werden beide versuchen das Spiel zu machen, auch wenn der frühere Dortmunder Lucas Barrios nach der 1:6-Pleite Paraguays die Chilen warnte: «Wenn ihr rausgeht, um das Spiel zu machen, geht es euch wie uns.»
Das Problem ist nur: Sampaoli kann nicht anders. Martino auch nicht. Aber auch er steht gewaltig unter Druck. Seit 22 Jahren hat Argentinien kein Turnier mehr gewonnen. Ein Sieg ist auch für ihn Pflicht. Ebenso wie für Sampaoli.
Weiss, dass es lange Schatten einer erfolgreichen Vergangenheit der argentinischenn Nationalmannschaft gibt: Gerardo Martino (links) während eines Trainings Vina del Mar. (Bild: Reuters/RODRIGO GARRIDO)