Das grellgelbe Mausoleum von Aachen

Der Traditonsverein Alemannia Aachen, 2007 noch Bundesligist und heute in der 3. Liga Deutschlands in Abstiegsnot, führt im Todeskampf eine Wirtschaftsposse um die Grotesken der Fussballbranche auf.

Das Prinzip Hoffnung herrscht in Aachen, wo der in Insolvenz stehenden Alemannia im schlimmsten Fall der Sturz in die Elftklassigkeit bevorsteht. (Bild: Imago)

Der Traditonsverein Alemannia Aachen, 2007 noch Bundesligist und heute in der 3. Liga Deutschlands in Abstiegsnot, führt im Todeskampf eine Wirtschaftsposse um die Grotesken der Fussballbranche auf.

Fussballfreunde in Aachen lernen seit einigen Wochen neues Fachvokabular jenseits von Doppelpass, Doppel-Sechs und dem nächsten 0:1: Restrukturierungs-Beauftragter zum Beispiel oder Planinsolvenzverfahren mit Eigenverwaltung. Der Traditionsverein Alemannia, 2007 noch Bundesligist und 2011 im Pokal-Viertelfinale, ist pleiter als jeder Geier.

Linke gegen rechte Ultras

Mit der Insolvenz nicht genug: Links gerichtete Aachener Ultra-Fans geben auf, weil rechte Hooligans sie attackieren und bedrohen. Vom wirtschaftlich vor dem Aus stehenden Verein fühlen sich die «Aachen Ultras ACU» im Stich gelassen. Die Unterwanderung der Kurven von rechts ist ein Phänomen, das im vergangenen Herbst in der Bundesliga in den Fokus geraten ist. «Wir sind mürbe geworden», sagt nun einer aus der Aachener Gruppe, die sich aufgelöst hat.

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Netz gegen Nazis

Im Oktober, kurz nach dem viel beweinten Abstieg in die 3. Liga, hatte sich plötzlich ein Finanzloch von 4,5 Millionen Euro aufgetan, das bis Juni, so die zerknirschten Clubchefs, auf 12 Millionen anwachsen werde. Bitte? War nicht mit dem Zweitliga-Abstieg im Sommer der Etat zusammen gestrichen worden, die Stadionmiete halbiert? Hat Aachen nicht mit beneidenswerten 13’500 Zuschauern die mit Abstand meisten Besucher in Liga 3 (und liegt 4000 über Plan)? Wo ist das Geld hin? Niemand weiss es bis heute.

Ende Mai noch war mit schönen Zahlenkolonnen, von Wirtschaftsprüfern abgesegnet, umgeschuldet worden. Stadt und Land übernahmen zweistellige Millionen-Bürgschaften. Alles im Lot, rief Geschäftsführer Frithjof Kraemer und liess sich vom Aufsichtsrat im September seinen Vertrag verlängern. Am 31. Oktober wurde er von den gleichen Räten, die entweder Mitwisser oder Aufsichtsversager sind, fristlos vom Hof gejagt. Clubchef Meino Heyen, 66, der 1983 den TecDax-Konzern Aixtron gründete, stotterte wie ein Erstklässler, der beim Schummeln erwischt wurde: «Wir, äh, stehen vor einem Scherbenhaufen.»

Ein grellgelbes Mausoleum

Die Alemannia Aachen GmbH hat dann Insolvenz angemeldet. Die Stadt fühlt sich «belogen, betrogen und über den Tisch gezogen» und reichte Strafanzeige gegen Kraemer, die Clubfürsten und die Wirtschaftsprüfer ein. Offenbar wurden Altlasten kreativ versteckt. Der Oberbürgermeister spricht von «krimineller Energie».Wegen der «Komplexität und Grösse des Falles» hat die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Wirtschaftskriminalität in Köln das Verfahren an sich gezogen. Es geht um Betrug, Untreue, Steuerhinterziehung, Insolvenzverschleppung.

Vordergründig ist der Stadionbau schuld. Mit dem grellgelben «Neuen Tivoli» für 50 Millionen Euro und 33’000 Zuschauer, eröffnet 2009, wollte man wettbewerbsfähig bleiben (Ziel: dauerhaft Liga 1) – und baute sich sein eigenes Mausoleum. Doch der grössenwahne Betonklotz ist nur mittelbar das Problem. Entscheidend waren die Kredite mit bis zu 14 Prozent Zinsen. Man sei so in Eile gewesen, liess Kraemer einmal wissen, deshalb die miese Verhandlungsposition und die schlechten Bedingungen.

Insolvenzantrag bedeutet laut DFB-Statuten Zwangsabstieg in Liga 4. Die Alemannia-Fans sind fassungslos, wütend – und tun was? Sie spenden («Liebe kennt keine Liga») ihre letzten Sparcents auf ein «Rettungskonto» und kaufen hässliche T-Shirts («Rettung – mit mir»). Einer schickte dem Insolvenzverwalter 5000 Euro: «Ich vertraue Ihnen. Kaufen Sie nen Knipser.» Wie surreal Vereinshingabe ist, belegt ein Aachener Malermeister: Er sagt, der Bauunternehmer schulde ihm noch 320’000 Euro, Alemannia habe sich an fünfstellige Zusagen nicht gehalten, der Stadionbau sei «ein Wust aus Lug, Trug und Intrigen», überall gebe es eklatante Baumängel. Dennoch bezeichnet er sich weiter als Fan und pilgert brav zu den Spielen.

Das Armenhaus des
deutschen Fussball

Die 3. Liga in Deutschland, auf die Saison 2008/09 eingeführt, beherbergt etliche prominente Namen wie die Bundesliga-Gründungsmitglieder 1. FC Saarbrücken, Preussen Münster oder Karlsruher SC und ähnlich viele wirtschaftliche Patienten. Neben der in Insolvenz stehenden Alemannia Aachen konnte etwa Tabellenführer VfL Osnabrück im Dezember den Kollaps vorübergehend aufschieben, düsgter sieht es auch in Rostock aus und dauerklamm ist die Arminia aus Bielefeld, die siche ebenso wie die Aachener mit einem Stadionneubau verhoben hat. In einem Beitrag des Sportinformationsdienst wird die 3. Liga vom Geschäftsführer des SV Babelsberg als «Geldverbrennungsliga» bezeichnet.

Eine vertiefte Analyse der 3. Liga aus dem Jahr 2011  

Ex-Oberbürgermeister als Pates des Untergangs

Vater des Stadions ist Jürgen Linden. Der ehemalige SPD-Oberbürgermeister und Aufsichtsratschef der Alemannia (bis 2010), hatte den Luxusneubau forciert, Strippen gezogen, nimmermüde für Stimmung gesorgt. Er gilt vielen jetzt als Pate des Untergangs. Vor Jahresfrist kündigte er «bis zum Sommer eine ausführliche Dokumentation des Stadionbaus» an. Sie kam nie. Heute will sich Linden nicht mehr äussern.

Mantrahaft hatte Linden stadionwerbend «vom Herzblut für die Alemannia» gesprochen. Solche lokalkolorierten Gefühls-Argumente sind szenetypisch für den Fussball allüberall. Alle sollen als Mitspieler ins Boot, auch die öffentliche Hand. Bürgt die Stadt einmal für das örtliche Werbevehikel Fussball, geht es immer weiter mit Begehrlichkeiten. Man ist erpressbar. Hilft man nicht, ist man am Untergang mitschuldig. Der Aachener Landtags-Grüne Rainer Priggen klagt, als Politiker habe man «immer die Arschkarte».

Die Summen sind gigantisch. Das Land Nordrhein-Westfalen ist bei der Alemannia mit 23 Millionen Bürgschaft in der Pflicht, die Stadt mit fast 19 Millionen. Die Fananleihe über 6 Millionen Euro inklusive Zinsen, rückzahlbar im Sommer 2013, dürfte untergehen. Fananleihen sind vielerorts sehr beliebt als Herzblutgabe. Sie dienen klammen Clubs, akute Liquiditätslöcher in die Zukunft zu verschieben.

Zocken jenseits der Legalität

Alemannia muss irgendwie «den Geschäftsbetrieb aufrechterhalten», sprich: unbedingt die Saison zu Ende spielen. Denn wird das Insolvenzverfahren schon jetzt eröffnet, steht das sportliche Todesurteil fest: Absturz in die Kreisliga D (11. Klasse). Also geht das Millionenspiel mitten in der Pleite wieder von vorne los: Gebt uns neues frisches Geld, bettelt und bittet die Alemannia, um die Kosten bis Juni schultern zu können.

Nicht nur Aachen ist ausgeblutet. Das Eigenkapital vieler deutscher Clubs unterhalb der Bundesliga schrumpft bedenklich. Fussball ist ein gefährlich unsoziales Business. Die 1. Liga boomt wie nie, sie ist über Fernsehgelder üppig alimentiert. Die ganz Grossen in der Champions League freuen sich über unappetitlich hohe Garantieprämien der Uefa. Der Unterbau ist Fussballprekariat. Er wird mit einem Sozialhilfesatz an TV-Geldern abgespeist. Im Überlebenskampf wird dann gezockt, gern jenseits der Legalität.

In Aachen helfen jetzt, ganz wie im richtigen Leben, die Reichen den Gescheiterten per Almosen: Am 20. Januar kam der FC Bayern unentgeltlich zum Rettungsspiel (2:5 vor 31’000 Zuschauern). «Ein Geschenk», jubelte der Restrukturierungs-Beauftragte Michael Mönig. Es setzte netto gut 500’000 Euro Einnahmen.

Barfuss auf den Mount Everest

Im Wirtschaftsleben eines Fussballligisten sind offizielle Bekundungen das Papier nicht wert auf dem sie gedruckt sind. Das zeigt die Bilanz der Alemannia Aachen GmbH. Da stehen so schöne Sätze wie «Die Gesellschaft hat im Geschäftsjahr 2010 die letzten Folgen des Stadionneubaus zu verkraften gehabt.» im gleichen Jahr warnte intern ein Wirtschaftsgutachten vom Gegenteil, aber das Papier verschwand in der Schublade. Dort entdeckten die Insolvenzgeschäftsführer jetzt viele Beispiele für, wie sie es nennen, «kreative Buchhaltung».

Sportlich ist Weitermachen womöglich eine Farce. In der Winterpause sind acht Spieler gegangen (worden), weil sie zu teuer sind (Löhne bis zu 300’000 Franken jährlich). Amateure und A-Jugendliche ersetzen die Profis. Dennoch gibt Mönig als Interims-Clubchef den Klassenerhalt in der 3. Liga als Ziel aus, was der «Aachener Zeitung» vorkommt wie eine «Barfussbesteigung des Mount Everest».

«Wenn wir die Insolvenz gut meistern und es sportlich schaffen, darf man doch nicht durch Zwangsabstieg bestraft werden,» hofft Mönig. Aber Statut ist Statut, wird der DFB kühl lächelnd sagen; und die gesündere Konkurrenz ohnehin rebellieren. Zudem ermittelt der Verband wegen Lizenzerschleichung im Vorjahr, es drohen Punktabzüge.

In Herzblut getränkt

Egal: Im schwarz-gelb besoffenen Aachen soll die realitätsferne Hoffnung gebefreundlich wirken. Spendet! Helft! Zahlt Eintrittsgelder! Sponsoren, kommt zurück! Zum Rückrundenstart am vergangenen Samstag kamen 8369 Zuschauer, der 1.FC Saarbürücken wurde von einer Mannschaft mit Durchschnittsalter 21,5 Jahren 2:0 besiegt und der in der Schweiz bestens bekannte Trainer René van Eck sagt: «Keiner erwartet mehr etwas von Alemannia, aber wir glauben an uns.»

Und der Trumm von Stadion? Minigolfplatz? Freilichtmessen? Neues Briefverteilzentrum mit einem gelben Sitz für jede Postleitzahl? Eine Nutzung über Konzerte geht aus Lärmschutzgründen nicht und weil es in diesem Schildbürger-Tivoli keine Fluchtwege aus dem Innenraum gibt. Sollte Alemannia zumindest in der 4. Liga überleben, will man hier weiter spielen und die Büros nutzen. Unentgeltlich. Denn Pacht ist dann nicht mehr drin. Die Alternative für die Bürgen von Stadt und Land sind auch nicht besser: Zieht Alemannia aus, muss das Gebäude notdürftig bewacht, gesichert, schon mal geheizt und gewartet werden. Kosten: 40’000 Franken, monatlich, Minimum, unbegrenzt.

In offizieller Rede steht schon eine Zwangsversteigerung. Und auf lange Sicht vielleicht: Abriss des Neubaus. Das würde, strassenbesenrein, auch an die zehn Millionen kosten. Aus dem Scherbenhaufen würde ein Schutthaufen, in Herzblut getränkt.

Das ist der Extremistenverein Alemannia Aachen:

  • souveräner Tabellenführer Ewige Zweitligatabelle
  • Einziger Zweitligist, der jemals in einem Kalenderjahr häufiger live im Free-TV zu sehen war als alle anderen deutschen Clubs (17 Mal im Jahr 2004: Uefa-Cup, DFB-Pokal, DSF-Montagsspiele)
  • Schnellster Torschütze bei gegnerischem Anstoss: nach 7,7 Sekunden (Miro Spizak, 2002, gegen Union Berlin)
  • Unglücklichst vergebene Torchance: Beide Pfosten und die Latte mit einem Schuss getroffen (Erik Meijer, in Cottbus, 2004).
  • Rekordpokalsiegerdauerbesieger: Drei Mal in Serie wurde Bayern München auf dem alten Tivoli niedergerungen (2004-2007)
  • Einziges Stadion mit Liebeserklärung im Namen, rückwärts gelesen: Tivoli – I lov it. (müll)

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