Das schlagartige Ende des Schweizer Traums

Die WM nimmt für die Schweiz ein bitteres Ende. Angel Di Maria trifft in der 118. Minute zum 1:0 für Argentinien, Blerim Dzemaili in der 121. Minute per Kopf nur den Pfosten. Das Schweizer Aus ist gleichzeitig der Schlusspunkt der Ära des Fussballtrainers Ottmar Hitzfeld.

Argentina players celebrate, while Switzerland players react, after extra time in their 2014 World Cup round of 16 game at the Corinthians arena in Sao Paulo July 1, 2014. REUTERS/Kai Pfaffenbach (BRAZIL - Tags: SOCCER SPORT WORLD CUP) (Bild: Reuters/KAI PFAFFENBACH)

Die WM nimmt für die Schweiz ein bitteres Ende. Angel Di Maria trifft in der 118. Minute zum 1:0 für Argentinien, Blerim Dzemaili in der 121. Minute per Kopf nur den Pfosten. Das Schweizer Aus ist gleichzeitig der Schlusspunkt der Ära des Fussballtrainers Ottmar Hitzfeld.

Es war ein epischer Abnützungskampf, den sich die Schweiz mit Argentinien in diesem WM-Achtelfinal geliefert hat. Nicht immer schön anzuschauen, aber von grosser Leidenschaft geprägt, gerade von den als Aussenseiter ins Rennen gegangenen Schweizern.

Und es nahm ein brutales Ende für diese Schweiz, als die Kräfte beider Mannschaften längst aufgebraucht schienen, als die Verlängerung sich dem Ende zuneigte und nur noch wenige Minuten bis zur finalen Entscheidung fehlten, zum Elfmeterschiessen.

Zwei Mannschaften brachten sich in São Paulo an ihre Grenzen und es war ein Spiel, ein Kampf, in dem auf beiden Seiten die Konzentration auf Kontrolle lag, darauf, Fehler zu vermeiden. Bis der erste Fehler entschied.

Lichtsteiners verlorener Ball, Messis Vorlage

Nach 117 Minuten verlor Stephan Lichtsteiner einen Zweikampf an der Seitenlinie auf Höhe der Mittellinie, und beim Gegenzug des zweifachen Weltmeisters raffte sich Lionel Messi zu einem letzten Tempolauf auf, grätschte Fabian Schär ins Leere, erreichte Messis Pass Angel Di Maria und der traf – mit seinem elften Schuss auf das Tor von Diego Benaglio.

Die Dramatik dieses Achtelfinals, zwar auch lange Zeit null zu null wie 2006, aber nicht zu vergleichen mit dem blutleeren Match gegen die Ukraine im WM-Achtelfinal in Köln, wurde in den letzten Augenblicken, den drei Minuten Nachspielzeit, die sich auf fast fünf Minuten ausdehnte, noch auf die Spitze getrieben: Ein letzter Eckball, ein verzweifelter Fallrückzieher-Versuch des nach vorne geeilten Diego Benaglio, eine letzte Flanke von Xherdan Shaqiri – und ein Kopfball des eingewechselten Blerim Dzemaili.

Der Ball sprang vom Pfosten zurück ans Knie von Dzemaili und von dort Zentimeter am Tor vorbei. Es war klar: Das Glück hatten die Schweizer nicht auf ihrer Seite. Ein letzter Freistoss von Shaqiri landete in der argentinischen Mauer. Das war es.

Hitzfelds Ende als Trainer

Abrupt platzte der Traum der Schweiz vom ersten WM-Viertelfinal der Neuzeit, zumindest aber von einem Elfmeterschiessen, und jählings geht damit die Zeit von Ottmar Hitzfeld als Nationaltrainer zu Ende. Es ist gleichbedeutend mit dem Ende der grossen Karriere Hitzfelds, der einer der erfolgreichsten (Vereins-)Trainer der Welt ist, und der sich in São Paulo an einen seiner bittersten Momente, den in der Nachspielzeit verlorenen Champions-League-Final 1999 mit Bayern München erinnert fühlen musste.

Hitzfeld machte auch bei seinem letzten Hurra einen zutiefst fokussierten Eindruck. Und das, nach dem er vom Tod seines 81-jährigen, schwerkranken Bruders Winfried erfahren hatte, der in der Nacht auf Montag in einem Basler Spital gestorben ist. Vor dem Spiel, beim Abspielen der Hymen, konnte man dem Lörracher die Rührung ansehen, und nach dem Spiel verbarg er seine Emotionen vor der Fernsehkamera nicht, brauchte kurz, um die Tränen zu unterdrücken und dann seiner Mannschaft zu einem «grossartigen Spiel» zu gratulieren.

Hitzfeld weiter: «Sie hat über eine leidenschaftliche Leistung zum Spiel gefunden. Die zweite Halbzeit hat unheimlich Kraft gekostet, aber wir waren überzeugt, dass wir in der Verlängerung den Lucky Punch setzen zu können.»

Die liegengelassenen Schweizer Chancen

Wie zwei Schwergewichtsboxer sind sich Schweizer und Argentinier gegenübergestanden. Ohne grosses Tempo, ständig im Infight, mit vielen kleinen und ganz wenigen gröberen Fouls. Der Schweiz kam die abwartende Rolle zu, Argentinien, das Team mit der höchsten Ballbesitzquote aller WM-Teilnehmer, liess den Ball zirkulieren, ohne dabei unwiderstehlich gefährlich zu werden.

Ganz im Gegenteil waren es Granit Xhaka und Josip Drmic, die zwei formidable Chancen zur Schweizer Führung besassen. In der 28. Minute fehlte Xhakas Schuss die letzte Überzeugung und Sergio Romero, der nicht über alle Zweifel erhabene argentinische Schlussmann, parierte diesen Versuch ebenso wie in der 39. Minute einen misslungenen Heber von Drmic.

Der zweite Durchgang gehörte ganz und gar dem zweifachen Weltmeister, der sich an diesem Turnier noch nicht in der Verfassung präsentiert hat, die ihn zum Titel prädestiniert. Phasenweise wuchs sich ihr Ballbesitz auf über 67 Prozent aus, aber die Argentinier rannten unermüdlich, jedoch fantasielos an. Nach 90 Minuten hatten sie 40 Kilometer mit dem Ball am Fuss zurückgelegt und waren die Schweizer 45 Kilometer hinterher gelaufen.

Das Aufbäumen in der Verlängerung

Aber die beiden Viererketten im 4-4-1-1 von Hitzfeld mit Drmic als Spitze und Shaqiri als Vagabund dahinter, diese aufopferungsvoll kämpfende Widerstandsgruppe hielt stand. Gefühlt hundert und eine Flanke flog in den Schweizer Strafraum, die Mannschaft war fast ausschliesslich mit Defensivarbeit beschäftigt und verteidigte ihr Tor mit grossem Herzen und konnte sich auf einen starken Bengalio stützen. Das war eine untadelige Teamleistung, wenn auch eine in der zweiten Halbzeit nachr vorne mutlose.

Das änderte sich schlagartig mit Beginn der Verlängerung. Jetzt machten auch die Argentinier einen gezeichneten Eindruck, wagten sich die Schweizer doch wieder weiter vor. Zum vielbeschworenen Lucky Punch reichte es nicht, den setzte der Gegner mit einem der ganz wenigen zügigen, gradlinig vorgetragenen Gegenzügen. Lionel Messi war der Initiator, Angel Di Maria der Vollstrecker. Es sind dies die einzigen beiden Spieler, auf denen sich die argentinischen Hoffnungen an dieser WM stützen können.

Hitzfeld: «Mit erhobenem Haupt»

Für die Schweiz gibt es an diesem Turnier keine Hoffnung mehr. Sie kehrt am Donnerstag in die Schweiz zurück, und sie wird es mit der Enttäuschung tun, ein weiteres Mal nicht den Exploit an einem grossen Turnier geschafft zu haben. Aber in dem Bewusstsein, so nahe wie noch nie davor gestanden zu haben. «Wir können mit erhobenem Haupt nach Hause reisen, und die Fans können stolz auf diese Mannschaft sein», sagt Ottmar Hitzfeld.

Im September wird sein Nachfolger Vladimir Petkovic die Schweizer Auswahl in Basel gegen England in die EM-Qualifikation führen. «Ich wünsche meiner Mannschaft, dass sie es an der nächsten EM und WM besser macht», sagt Hitzfeld. Und am Dienstagabend erhielt er von einem seiner grossen Mitstreiter bei Bayern München, Oliver Kahn, ein letztes Kränzchen gewunden. Als Sachverständiger im Zweiten Deutschen Fernsehen hat der «Immer-weiter»-Kahn eine Schweizer Nationalmannschaft gesehen, «die bis zum Ende daran geglaubt hat. Das überdauert.»

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