Nicht jeder Spitzenathlet schafft den Schritt ins Leben nach dem Sport problemlos. Viele haben nach dem Rücktritt damit zu kämpfen, dass Charaktereigenschaften, die für ihre Karriere unabdingbar waren, plötzlich störend werden.
Irgendwann erwischt es jeden. Die Erfolgreicheren erhalten vielleicht noch einen Blumenstrauss in die Hand gedrückt und von der Tribüne wird ein letztes Mal Applaus gespendet. Andere verschwinden still und leise, ohne dass jemand davon Notiz nimmt. Die Frage aber bleibt für alle Spitzensportlerinnen und -sportler, die ihre Karriere beenden, dieselbe: Was nun?
Die einen versuchen erst mal im Sport zu bleiben, machen wie Ex-Fussballer Benjamin Huggel eine Trainerausbildung und schauen, was dabei herausschaut. Scott Chipperfield, der zweite grosse Spieler des FC Basel, der im Sommer zurückgetreten ist, lebt seinen einstigen Traum von einer Bar an einem australischen Strand nun bei Heimspielen seines ehemaligen Clubs hinter dem Burgerstand aus, während er herausfindet, wohin der Weg gehen soll.
Das Problem aller Spitzensportler nach dem Rücktritt: Ihre Karriere als hochspezialisierte Fachkräfte ist zwar zu Ende. Aber während der gemeine Pensionär den Schreibtisch aufräumt, seine Siebensachen in einen Karton packt und sich auf sein Altenteil zurückzieht, stehen die ehemaligen Sportler mitten im Leben. Sie müssen sich eine Karriere nach der Karriere aufbauen. Das tun sie geprägt durch ihr bisheriges Dasein als Leistungssportler, und das muss nicht nur ein Vorteil sein.
Es werden auch negative Eigenschaften mitgenommen
Natalie Barker-Ruchti hat den Übertritt von Spitzenathleten in das Leben nach dem Sport untersucht. Und sie räumt in ihrer Forschungsarbeit mit der Vorstellung auf, der Sport sei eine Lebensschule, die einen nur mit positiven Fähigkeiten ausstattet.
Die Bernerin, die derzeit an der Universität Göteborg forscht, hat ehemalige Teilnehmer von Olympischen Spielen befragt, die ihren Weg in ein Leben nach dem Rücktritt bereits gefunden haben. Dabei ist sie auf Menschen gestossen, die in ihrer Zeit im Spitzensport auch Eigenschaften angenommen hatten, die ausserhalb des Wettkampfs kaum oder gar nicht dienlich sind.
Negative Prägungen kamen dabei nicht einfach so en passant auch noch vor. Sie waren eine der auffälligen Konstanten bei der Untersuchung. «Dispositionen, die in der Gesellschaft nicht erwünscht sind, kamen stark zur Geltung», sagt Barker-Ruchti.
Was im Sport zielführend ist, kann ausserhalb störend sein
Bis anhin war die Forschung grösstenteils davon ausgegangen, dass Athleten die erworbenen positiven Eigenschaften, sogenannte «Life Skills», in ihr Leben nach dem Sport übertragen könnten: Durchsetzungsvermögen, Fokussierung, zielgerichtetes Handeln, der geübte Umgang mit Drucksituationen und ähnliches.
«Aber es ist nicht so, dass ein erfolgreicher Sportler auch ausserhalb des Sports automatisch Erfolg hat», stellt Barker-Ruchti fest. Und dass die Athleten auch durch den Spitzensport erworbene Prägungen mit in ihr neues Leben nehmen, die in einem bürgerlichen Rahmen hinderlich bis störend sein können, wurde bislang fast gar nicht beachtet.
Ein Fehler, wie Barker-Ruchtis Arbeit zeigt. Die Athleten, die an ihrer Studie teilgenommen haben, stellten nämlich selbst fest, wie sie in ihrem neuen Leben plötzlich mit Eigenschaften zu kämpfen hatten, die im Sport noch zielführend gewesen waren.
Das Leben wird komplexer
Da wird ein Kampfsportler als Beispiel aufgeführt, der seine olympische Karriere mit einer Medaille gekrönt hat. Als Einzelkämpfer war er von einem Team umgeben, das nur ein Ziel hatte: Ihm die besten Voraussetzungen für Siege zu bieten. Alle arbeiteten für seinen persönlichen Erfolg.
Für seine Karriere im Kampfsport sei ein ausgeprägter Egozentrismus unabdingbar gewesen, stellt der Athlet im Nachhinein fest. Als er aber später Jugendliche trainiert, konstatiert er, dass er die Nachwuchskämpfer nicht einfach nach seinem Willen formen kann, dass er plötzlich Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer nehmen muss.
Überhaupt bemerkt er, dass das Leben komplexer wird: «Wenn du im Wettkampf bist, dann denkst du nur daran, wie du den Gegner schlägst. Das ist alles. So musst du denken. Aber wenn du zurücktrittst, dann bist du nicht mehr alleine. Dann geht es nicht mehr nur darum, ob du gewinnst. Du musst mit den Leuten klarkommen.»
Die totale Unterordnung
Eine ganz andere Prägung hat eine ehemalige Synchronschwimmerin erlebt. Sie lernt in ihrer Sportart, sich völlig dem Ziel eines Trainers oder eines Teams unterzuordnen: «Das war sehr wichtig. Dass du einfach funktionieren konntest in allen Situationen und Momenten deines Lebens. Dass du deine eigenen Bedürfnisse ignorierst, dass du Kritik akzeptierst und damit umzugehen lernst.»
Sie nimmt sich selbst so sehr zurück, dass sie vor der Qualifikation zu den Olympischen Spielen auch dann weiter trainiert, als sie schwer erkrankt und nichts mehr essen kann. «Ein Schluck Brandy, ein Schluck Cola, das war alles, was ich zu mir nehmen konnte.» Und das nicht einmal, um ihr eigenes Ziel zu erreichen. «Ich schwor mir: Ich mache es für die anderen. Ich mache das alles nicht für mich, weil ich es nicht mehr brauche.»
Diese Unterordnung war für sie ein akzeptierter Bestandteil ihres Sportlerdaseins: «Ich wusste, nur so werden wir Erfolg haben.» Im Leben ausserhalb des Schwimmbeckens dagegen ist es kein Vorteil, sich stets zu fügen.
«Du musst aufhören, dich unterzuordnen»
Doch obwohl die ehemalige Synchronschwimmerin das weiss, muss sie es sich auch Jahre nach dem Rücktritt selbst vergegenwärtigen. «Ich denke noch heute: Du musst aufhören, dich unterzuordnen. Heute hinterfrage ich auch Dinge. Im Synchronschwimmen etwas zu hinterfragen, war nicht gut.»
Das Phänomen der Unterordnung hat Barker-Ruchti vor allem bei Frauen festgestellt. «Bei Männern war das weniger der Fall.» Beiden Geschlechtern gemeinsam aber ist beim Rücktritt der Verlust eines geschützten Rahmens. «Sportler müssen zwar grosse Leistung erbringen», sagt Barker-Ruchti, «aber dafür werden ihnen die Dinge, die den Sport betreffen, auf dem silbernen Tablett dargereicht.»
Der neue Rhythmus als Problem
Nach dem Karrierenende fällt dieser Kokon weg. Das hat auch Sébastien Barberis festgestellt. Der heute 40-Jährige trat 2005 als Fussballer zurück und startete eine neue Karriere auf einer Bank. Heute sagt der ehemalige FCB-Profi: «Das Schwierigste war, einen neuen Rhythmus zu finden. Als Fussballer musst du im Training und in den Spielen Leistung bringen – und sonst musst du nichts tun. Die Leibchen liegen in der Garderobe, die Masseure sind da, du bist umsorgt und überwacht.»
Längst nicht alle können sich so schnell umstellen wie Barberis. Denn der Sport bietet auch andere Dinge, die normale Jobs selten mit sich bringen: sofortige Messbarkeit der eigenen Leistung etwa. Dieses Problem schildert eine ehemalige Landhockey-Spielerin, die mehrfach an Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Danach musste sie als Lehrerin wieder ganz von vorne beginnen.
Das allerdings war weniger ein Problem. Aber sie konnte nicht damit umgehen, kein direktes Feedback mehr zu erhalten. «Sie hatte das Gefühl, im Nichts zu sein», sagt Barker-Ruchti, «sie hatte keinen Bezugspunkt mehr.» Dieselbe Frau, die als Spielerin zuletzt in ihren Teams unbestritten eine Leaderfigur gewesen war, durchlebte im ersten Jahr nach ihrem Rücktritt eine Depression.
Kritische Distanz zu wahren, kann helfen
Barker-Ruchti und ihre Kollegen glauben, einen wichtigen Punkt gefunden zu haben, der die Probleme nach einem Rücktritt lindern könnte: «Es hilft, schon während der Karriere eine kritische Distanz zum Sport zu entwickeln.»
Während der Sportartikelgigant Adidas gerade mit Athleten wirbt, die «all in» sind – die also alles in ihren Sport investieren, plädiert Barker-Ruchti für einen etwas weniger verbissenen Ansatz. Einen, bei dem sich die Athleten nicht alleine über die Resultate in ihrem Sport definieren.
Und anders als die landläufige Meinung ist Barker-Ruchti der Ansicht, dass eine solche Einstellung der Leistung der Sportler nicht abträglich sein muss. «Es gibt keinen Beweis dafür, dass es schlecht für die Leistung ist, wenn die Athleten eine gewisse kritische Distanz zu ihrem Sport entwickeln», stellt Barker-Ruchti fest. Sie ist im Gegenteil sogar davon überzeugt, dass eine solche Distanz der Leistung förderlich sein kann: «Viele Sportler haben bemerkt, dass sie so etwas von sich aus entwickelt haben. Und dass sie ohne diese Distanz früher mit dem Leistungssport aufgehört hätten.»
Barberis als Beleg für die These
Genau diesen Ansatz will Barker-Ruchti weiterverfolgen. «So, dass wir den Beweis erbringen können, dass eine kritische Distanz die Leistungen während der Sportkarriere ebenso verbessern kann wie den Übergang in das Leben nach dem Sport.»
Sébastien Barberis könnte ihr da eigentlich als Beleg für diese These weiterhelfen. Er wurde mit dem FCB Schweizer Meister, er gewann den Cup und er spielte in der Champions League. Nebenbei hat er sich in seiner Zeit in Basel stets weitergebildet und Sprachkurse besucht: «Mir war immer wichtig, dass ich einen Fuss in der Realität behalte und nicht nur in den Sternen der Champions League lebe.» Heute ist der ehemalige Fussballer Chef einer Bankfiliale.
(Was in der Schweiz unternommen wird, um Spitzensportlern den Weg in das Leben danach zu erleichtern, lesen Sie im Interview mit Karin Rauber von Swiss Olympic.)
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12