Das Spiel der 54 Fouls

Mehr Fouls gab es an dieser WM noch nie. Brasilien besiegte Kolumbien in einem umkämpften Spiel und zieht in den Halbfinal ein. Für Neymar geht die WM mit einem gebrochenen Wirbel vorzeitig zu Ende.

Der Kolumbianer spielt weiter und Neymar beibt verletzt liegen. (Bild: FABRIZIO BENSCH)

Mehr Fouls gab es an dieser WM noch nie. Brasilien besiegte Kolumbien in einem umkämpften Spiel und zieht in den Halbfinal ein. Für Neymar geht die WM mit einem gebrochenen Wirbel vorzeitig zu Ende.

Schlusspfiff im Castelão. Trotz des infernalischen Lärms im Stadion von Fortaleza hört man auch die Böller aus der Stadt. Brasilien steht im Halbfinale seiner Fußball-WM. Brasilien hat es geschafft, irgendwie. Auch wenn es beim 2:1 gegen Kolumbien viel leiden musste.

Wie hoch der Preis für diesen Sieg war, ahnt noch niemand in diesem Moment, als der Brasilianer David Luiz – Torschütze zum 2:0 – den weinenden Kolumbianer James Rodríguez – Torschütze zum 2:1 – in den Arm nimmt. Sicher: Kapitän Thiago Silva – Torschütze zum 1:0 – hat die zweite Gelbe Karte gesehen und wird im Halbfinale gegen Deutschland fehlen. Das haben alle mitbekommen. Schlimm genug. Aber die Szene kurz vor Schluss ging fast ein bisschen unter in einer bewegten Schlussphase mit fünf Minuten Nachspielzeit.

Neymar’s Wirbelbruch

Der übermotivierte Sprung von Juan Zuñiga mit dem Knie voraus in Neymars Rücken ist ja auch nur eines von insgesamt 54 Fouls in einem harten, wenngleich nicht brutalen Spiel. Neymar bleibt am Boden liegen – nicht zum ersten Mal in einer Partie, in die er nach etlichen Tritten seiner WM-Gegner schon angeschlagen hineingegangen war. Diesmal steht er jedoch nicht mehr auf. Er wird mit der Bahre vom Platz getragen. Wertvolle Zeit, mögen manche Fans denken. Die Tränen sieht im Stadion niemand.

 Als sein Trainer Luiz Felipe Scolari eine halbe Stunde nach Abpfiff erste Informationen weitergibt, wird Neymar gerade in eine nahe Klinik verlegt. «Er hat geheult vor Schmerzen», berichtet Scolari nach einem Spiel, in dem die zuletzt so nah am Wasser agierende Seleção ihr psychologisches Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Doch ohne Drama geht es für Brasiliens Auswahl einfach nicht bei diesem Turnier. Und keines ist größer als dieses.

Scolaris Hoffnung, sein Superstar, das Gesicht der Mannschaft, ihre Kunst und Seele, das große Heilsversprechen für den WM-Sieg zerplatzt eine Stunde später. Da kommt die Diagnose von Verbandsarzt Rodrigo Lasmar: Wirbelbruch. Voraussichtlich vier bis sechs Wochen Pause. «Die Verletzung erfordert keine Operation», so der Doktor. «Seine Karriere ist nicht in Gefahr». Ein Satz, der verdeutlicht, wie schlimm die Befürchtungen zwischenzeitlich gewesen sein müssen.

So viele Fouls wie noch nie 

54 Fouls, die meisten bisher bei dieser WM. Und das in einem Spiel, von dem Scolari vorher explizit weniger Härte erwartet hatte als zuletzt: «Unsere Kriege sind gegen Chile, Uruguay, Argentinien – gegen Kolumbien sind es immer heitere Spiele.» Ganz so fröhlich ging es dann doch nicht zu, «so enge und ausgeglichene Spiele sind eben oft etwas angespannt», sagte Kolumbiens Trainer José Pekerman. Aber nicht immer so spektakulär: Das Tempo war atemberaubend, über weite Strecken der Partie gab es das Mittelfeld nur dazu, um mit wahnwitzigen Sprints sofort überwunden zu werden.

Brasilien zeigte dabei besonders in der ersten halben Stunde seine bisher beste WM-Leistung: so intensiv und direkt wie vor einem Jahr beim gewonnenen Confed-Cup. Früh erzielte Silva nach einer schwach verteidigten Ecke das 1:0 – und schon diese Geschichte wäre gut genug gewesen, um dem Spiel ein Thema zu geben. Silva war wegen seiner Verweigerung und Selbstisolation beim Elfmeterschießen gegen Chile heftig attackiert worden, statt den besten Innenverteidiger der Welt repräsentierte er für viele Landsleute plötzlich nur noch eine verweichlichte Fußballergeneration und eine psychisch überforderte Mannschaft. Nun feierte der Kapitän eine kleine Erlösung.

Innenverteidiger erzielen beide Tore

Andererseits sagt es viel aus über die spielerische Einfältigkeit der Seleção, dass zwei Innenverteidiger mit zwei Standardsituationen die Tore erzielten. Das 2:0 war dennoch von seltener Exquisität. David Luiz lief mit seinen langen, staksigen Beinen frontal auf den Ball zu, öffnete dann aber den Innenrist und schickte die Kugel in bester Andrea-Pirlo-Manier aus 30 Metern hart, platziert und flattrig über die Mauer ins Eck (69.).

Danach spürte Brasilien seine irrsinnige Anfangsphase immer mehr in den Beinen, verlor die Spielkontrolle und assistierte der kolumbianischen Aufholjagd mit zahllosen Ballverlusten im Mittelfeld. Angetrieben von einem so feurigen wie erneut inspirierten James hätte das Team von José Pekerman beinahe noch mehr geschafft als dessen sechstes WM-Tor per Elfmeter (80.). 

Dementsprechend groß war die Erleichterung in Fortaleza, denn bis auf die ärgerliche Gelbsperre für Silva nach einer taktischen Behinderung von Kolumbiens Torwart Ospina schien die Welt zum ersten Mal bei diesem Turnier so halbwegs in Ordnung. Seit dem dürftigen Eröffnungsspiel gegen Kroatien mit Rumpelfussball und Schiedsrichtergeschenk befand sich der Gastgeber ja permanent unter Beweisnot. Scolari schwang immer tollkühnere Reden, um den Druck von seiner Elf nehmen. Mit dem Halbfinaleinzug ist das ganz große Debakel jetzt erstmal abgewendet.

 Brasilien ohne Neymar als Aussenseiter

Ironischerweise könnte Neymars Ausfall die psychologische Ausgangssituation für das Spiel gegen Deutschland weiter verbessern – jetzt geht Brasilien garantiert nicht mehr als Favorit in das Spiel. Aber ob das den sportlichen Verlust kompensiert? Stehen in der Innenverteidigung mit Dante und Henrique noch durchaus kompetente Vertreter zur Verfügung, war Neymar der eine Spieler, der nicht ausfallen durfte. Im Kader gibt es nicht ansatzweise Ersatz für sein Talent, seine Mobilität und Kreativität – auch wenn sich die Mannschaft gegen Kolumbien erstmals ein wenig von ihm emanzipierte. Emanzipieren musste, weil er eben schon da nicht richtig fit wirkte.

«Wir sind extrem traurig», sagte der überragende Antreiber David Luiz, nachdem ihm die Reporter in Fortaleza die schlechte Nachricht überbracht hatten. «Neymar ist eine wunderbare Persönlichkeit und hat Magie und Brillanz in diese WM gebracht ». Auf Twitter drückte die ganze Fußball-Welt ihr Mitgefühl aus. Von der brasilianischen Präsidentin Dilma Rouseff über Argentiniens Star Lionel Messi bis hin zu den Deutschen Mesut Özil und Lukas Podolski, am Dienstag Gegner der Neymar-losen Brasilianer. Allein in der ersten Stunde nach der Diagnose gab es in dem sozialen Netzwerk 521’000 Erwähnungen seines Namens. In Brasilien herrschte Schockzustand: der Halbfinaleinzug war fast nur noch Randthema gegenüber dem prominenten Patienten.

 

Mit einem Stützkorsett flog der Angreifer in der Nacht mit dem Team zurück ins Quartier bei Rio de Janeiro, er will auch in der letzten WM-Woche bei der Mannschaft bleiben. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass Scolari jetzt seine Spieler um ihn versammeln und auf den Jetzt-erst-recht-Effekt setzen wird. Brasilien hat ein neuen Traum: die Weltmeisterschaft für Neymar zu gewinnen. 

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