Der Abgang durchs grosse Portal

Nur sehr wenig fehlte der Schweizer Nationalmannschaft zum grössten Coup ihrer Länderspielgeschichte. Am Mittwochabend reist sie heim, und sie kann, trotz des Zwischenspiels gegen die Franzosen, ein gutes Turnier bilanzieren. Doch das Bedauern bleibt, den Sprung über den eigenen Schatten, wieder nicht geschafft zu haben.

Sao Paulo, 01.07.2014, Fussball WM 2014, Achtelfinal, Argentinien - Schweiz. Enttaeuschung bei Stephan Lichtsteiner (SUI) - Foto: Jonne Roriz/Fotoarena/Fotoarena (EQ Images) SWITZERLAND ONLY (Bild: EQ Images/Jonne Roriz, Fotoarena)

Nur sehr wenig fehlte der Schweizer Nationalmannschaft zum grössten Coup ihrer Länderspielgeschichte. Am Mittwochabend reist sie heim, und sie kann, trotz des Zwischenspiels gegen die Franzosen, ein gutes Turnier bilanzieren. Doch das Bedauern bleibt, den Sprung über den eigenen Schatten, wieder nicht geschafft zu haben.

Am Ende verpassten die Schweizer einen WM-Viertelfinal fast so knapp wie vor acht Jahren in Köln. Damals vergaben sie ihre grosse Chance gegen die Ukraine erst im Elfmeterschiessen, diesmal fehlten gegen einen Grossen des Weltfussballs wie Argentinien ein paar wenige Minuten dazu.

«Das schlagartige Ende des Schweizer Traums» – der Bericht, der Ticker und die Bilder vom Spiel

«Die Schweiz hat Sympathien gewonnen in der ganzen Welt» – die Stimmen zum Spiel

«Die Schweizer leiden mit» – Bilder aus den Fanzonen in der Schweiz, Argentinien und Brasilien

Doch der Unterschied zwischen den beiden Spielen hätte nicht grösser sein können. In Köln hatten sich zwei müde Teams einen enttäuschenden Match geliefert, der in einem Elfmeterschiessen gipfelte, in dem die Schweizer nicht einmal trafen. Diesmal aber war eine frische, taktisch ausgezeichnet eingestellte und leidenschaftlich kämpfende Mannschaft zu sehen, der nur sehr wenig zum grössten Coup ihrer Länderspielgeschichte fehlte.

Eigentlich sind den Schweizern im Spiel, das nun doch zum letzten ihres Trainers Ottmar Hitzfeld wurde, nur zwei Vorwürfe zu machen: Dass sie in der ersten Halbzeit, die sie erstaunlich gut kontrollierten, ihre zwei klarsten Torchancen nicht nutzten. Zuerst scheiterte Granit Xhaka aus bester Position an Torhüter Sergio Romero, dann entschied sich Josip Drmic alleine vor Romero zu einem Heber. Das war ein Fehler, zumal Drmic seine Absicht auch noch miserabel ausführte.

Lichtsteiner hätte dieser Fehler nicht passieren dürfen – es war das eine Defizit zu viel.

Und das zweite, das schliesslich entscheidende, Defizit war in der 118. Minute der Ballverlust Stephan Lichtsteiners auf der Höhe der Mittellinie. Rodrigio Palacios, Lionel Messi mit geschwindem Antritt und präzisem Pass sowie Angel Di Maria mit starkem Abschluss waren die Argentinier, die den Match entschied. Lichtsteiner aber hätte dieser Fehler nicht passieren dürfen.

Ausgezeichnet verteidigt

Natürlich muss man sagen, die «Albiceleste» habe sich den hart erkämpften Sieg doch auch verdient. Denn nach einer ersten Halbzeit, in der sich die Favoriten nie durchsetzen konnten und froh sein mussten, nicht in Rückstand zu geraten, wurden sie erfolgreicher. Nun griffen sie praktisch in einem 4-2-4 an.

Nun paarten sie das Plus an Ballbesitz und feldmässiger Dominanz mit mehreren Szenen, in denen sie Diego Benaglio ernsthaft prüfen konnte. Erstmals war das allerdings erst nach einer Stunde zu sehen, vorher waren die Argentinier nie so weit gekommen. In der Verlängerung waren sie dann auch kräftemässig überlegen.

Aber sie hatten im entscheidenden Moment eben auch Glück: Es lief nämlich schon die Nachspielzeit nach dem Tor, als Xherdan Shaqiri nach einem in erster Instanz abgewehrten Eckball von der andern Seite eine erstklassige Flanke schlug; vom Kopf Blerim Dzemailis flog der Ball praktisch auf Bodenhöhe an den Pfosten; und den Abpraller konnte Dzemaili nicht kontrollieren, also ging der Ball knapp am Pfosten vorbei. Selbst Benaglio war in diesen Momenten im gegnerischen Strafraum, was beinahe zu einem «Empty-Netter» Di Marias geführt hätte. Ein letzter 17-Meter-Freistoss Shaqiris endete in der Mauer.

Die Disziplin und spielerische Qualität

Insgesamt dürfen die Schweizer das Lob beanspruchen, ihre – erwartete – taktische Marschroute mit sehr viel Disziplin, sehr viel Ruhe und auch spielerischer Qualität erfüllt zu haben. Argentiniens Superstar Messi wurde selbstverständlich nicht in Manndeckung genommen, vielmehr griffen ihn in erster Instanz die beiden «Sechser» Gökhan Inler und Valon Behrami an, dahinter lauerten die Innenverteidiger Fabian Schär und Johan Djourou.

Diese Rechnung ging sehr, sehr lange auf, ohne dass Messi grob behandelt worden wäre. Zeichen, allmählich entnervt zu sein, liess der kleine Star zum Ende der regulären Spielzeit aber erkennen. Aber seine bedeutende Szene hatte er dann halt doch, auch wenn er erstmals an dieser WM kein Tor schoss.

Erstklassige Schweizer Abwehrarbeit

Die Abwehrarbeit der Schweizer war absolut erstklassig, in einem System, mit zwei Viererketten und den beiden leicht gestaffelten Offensivkräften Shaqiri und Drmic davor. Die Räume wurden so eng, und sie wurden auch nicht durch individuelle Fehler geöffnet.

Inler und Behrami spielten defensiv ausserordentlich gut, aber auch das Duo Fanbian Schär/Johan Djourou machte einen sehr respektablen Match. Die Aussenverteidiger waren defensiv ebenfalls gut, mit Ausnahme zweier Szenen, in denen sich Ricardo Rodriguez erwischen liess.

Man begann sich schon vorzustellen, dass Benaglio das Elfmeterschiessen entscheiden könnte…

Natürlich wäre – wie einst vor vier Jahren gegen Spanien – nicht möglich gewesen, die Null so lange zu halten, hätte nicht Benaglio seinen Beitrag geleistet. Der Goalie mochte angenehm überrascht worden sein, bis zu Gonzalo Higuains Kopfball in der 62. Minute nicht vor schwierigere Prüfungen gestellt zu werden. Aber dann hatte er doch mehrmals Arbeit zu leisten, wie sie nur einer von Sonderklasse kann. Man begann sich schon vorzustellen, dass Benaglio das Elfmeterschiessen entscheiden könnte – für die Schweiz…

Offensiv weniger bedeutend

Offensiv waren die Schweizer naheliegenderweise zu weniger Bedeutendem fähig. Und doch war es keineswegs der «Morgartenstil», mit dem sie in Durban die Spanier geschlagen hatten, es war eine Leistung von spielerisch deutlich mehr Qualität. So wie der Match lange lief, hätten die doch herausgespielten Chancen gar zum Sieg reichen können.

Es war trotz Drmics mässiger Tagesform allerdings kein Gewinn, ihn durch Haris Seferovic zu ersetzen, denn dem glückte fortan eindeutig (noch) weniger. Je länger das Spiel dauerte desto schwerer fiel es den Schweizern, die im Ansatz öfter guten Angriffe klar durchzuziehen. Es reichte zwar noch, den brasilianischen Teil des Publikums mit einigen Ballstafetten zu begeistern. Aber es reichte nicht mehr, Romero ernsthaft zu beunruhigen – bis auf die turbulenten Minuten nach dem Gegentor.

Eine gute Bilanz

Die Reaktion der Schweizer auf den späten Gegentreffer war in der Tat höchst bemerkenswert. Wie nahe sie, die schon geschlagen am Boden zu liegen schienen, dem Ausgleich noch kamen, legt diese Schlussfolgerung nahe: Die Schweiz ist – eben so ganz anders als vor acht Jahren – durchs grosse Portal von der WM abgegangen.

Diese Mannschaft kann, trotz des Zwischenspiels gegen die Franzosen, ein gutes Turnier bilanzieren. Aber das Bedauern bleibt, den grossen Schritt, gleichsam den Sprung über den eigenen Schatten, wieder nicht geschafft zu haben.

 

 

Nächster Artikel