Der Erfolg von Leicester City soll ein Märchen sein? Quatsch

Leicester City eilt zum ersten Titelgewinn seiner Geschichte. Der Verein verändert aber nicht nur die Premier League, sondern auch die Stadt selbst.

Leicester City's Jamie Vardy during the English Premier League soccer match between Sunderland and Leicester City at the Stadium of Light, Sunderland, England, Sunday, April 10, 2016. ()

(Bild: AP Photo/Scott Heppell)

Leicester City eilt zum ersten Titelgewinn seiner Geschichte. Der Verein verändert aber nicht nur die Premier League, sondern auch die Stadt selbst.



Football Soccer - Sunderland v Leicester City - Barclays Premier League - Stadium of Light - 10/4/16 Leicester manager Claudio Ranieri before the match Reuters / Russell Cheyne Livepic EDITORIAL USE ONLY. No use with unauthorized audio, video, data, fixture lists, club/league logos or

So ernst und nachdenklich, wie er immer wirkt, ist Claudio Ranieri nicht – mehr. Der Erfolg seiner Mannschaft entlockt auch dem Trainer unbekannte Eigenschaften. (Bild: REUTERS/Russell Cheyne)

Die Pointe dieser einmaligen Saison von Leicester City lieferte Trainer Claudio Ranieri selbst. Auf einer Medienkonferenz im Februar wurde Ranieri mal wieder zum Stand der Vertragsverhandlungen mit Himmelsstürmer Jamie Vardy (hat inzwischen bis 2019 verlängert) gefragt. Ranieri antwortete, dass er dazu nichts antworten könne, er sei ja Trainer und kein Manager. Dann legte er eine Kunstpause ein, über sein Gesicht zog ein Grinsen. «Pinocchio!», lachte Ranieri auf einmal los – und zeigte allen Medienvertretern eine lange Nase.

Eine lange Nase! Die zeigt in dieser Saison Leicester City dem englischen Fussball. Im Gegensatz zu jeglichen Vorhersagen hat es der Klub aus den Midlands geschafft, einen Fünf-Punkte-Vorsprung an der Tabellenspitze mit auf die Zielgerade der Saison zu nehmen. Aus den Foxes – der Spitzname stammt aus einer regionalen Tradition in der Fuchsjagd – sind schon längst Flying Foxes geworden. Der einzige Verein, der das unendliche Glück vier Spieltage vor Saisonende noch verhindern kann, ist Tottenham Hotpsur.

Wer einen Franken setzte, gewinnt 5000 beim Gewinn der Premier League

Leicester startete diese Spielzeit als 5000:1 Aussenseiter auf die Meisterschaft, weil dem Klub erst im Sommer 2014 nach zwölf Jahren wieder der Aufstieg in die erste Liga gelungen war. In der ersten Premier-League-Saison sicherte sich Leicester gerade so den Klassenverbleib. Seit dem Beginn dieses Endspurts gewann der Klub 28 von 43 Ligaspielen (zuletzt meistens mit 1:0).

Das sind die statistischen Daten zum viel bestaunten Wunder.

Bei Leicesters Erfolgsgeschichte geht es aber in erster Linie nicht um Fussball, sondern um den Zyklus des Lebens: scheitern, aufstehen, wieder hinfallen, erneut einen Rückschlag verkraften. Im Hinterkopf immer diesen Traum, eines Tages, eines Tages…

Leicester City ist es gelungen aus diesem Kreislauf auszubrechen und auf die Siegerstrasse einzubiegen. Der Klub könnte bald den ersten Meistertitel seiner Historie feiern und nächstes Jahr Champions League spielen. Es würde der Stadt Leicester eine Identität geben. Die Menschen in England können die 330’000 Einwohner grosse Provinz geografisch kaum zuordnen: Menschen im Süden glauben, dass Leicester im Norden des Landes liegt; im Norden denken sie, dass Leicester sich im Süden befindet.

 

Tatsächlich hat Leicester seinen Platz auf der Landkarte zwischen London und Manchester, etwa 160 Kilometer trennt es jeweils von beiden Städten. Ranieri besitzt auch ein Haus im Londoner Stadtteil Parsons Green, weil er einst den FC Chelsea trainiert hatte, aber sein Lebensmittelpunkt ist Leicester geworden. Im Gegensatz zu einigen Spielern: Die ziehen es vor, lieber zu pendeln zwischen den Wohnorten Manchester oder der englischen Hauptstadt und dem Trainingsgelände.

Leicester, das ist keine Stadt für Fussballer. Die Region kann nicht mit berühmten Persönlichkeiten und Wahrzeichen dienen. Was der grauen Metropole Flair verpasst, sind die verschiedenen ethnischen Gruppen, die hier zusammen leben. Leicester dient als Vorbild für Integration, etwa die Hälfte der Einwohner stammt aus anderen Kulturen. Für sie hatte Fussball nur eine untergeordnete Bedeutung. Bis jetzt.



Buddhist monk Phra Prommangkalachan poses for a portrait next to holy cloths with Leicester City's logo while he blesses the team at his temple in Bangkok, Thailand April 18, 2016.  TPX IMAGES OF THE DAY

Leicester City ist jetzt selbst in Thailand ein Thema. Zumindest für den Mönch Pra Prommangkalachan, der hier gerade für Erfolg betet. (Bild: REUTERS/Jorge Silva)

Als Fairytale bezeichnen die Engländer gerne den Gipfelsturm Leicesters, aber Märchen sind frei erfundene Geschichten. Der Spielerkader aber, den Steve Walsh, 51, eine der wenig besungenen Vorzeigefiguren, über die Jahre hinweg für knapp 28 Millionen Euro zusammengestellt hat, existiert wirklich.

Den grössten Teil seiner aktiven Karriere hat Walsh in den 1990er-Jahren bei den Foxes verbracht. Den damaligen Stürmer verehren die Fans auch in der Gegenwart noch als «Captain Fantastic». Im Sommer 2011 begann er seine Tätigkeit als Head of Recruitment an der Filbert Street. Das Talentsichtungsteam um Walsh verpflichtete Spieler, die vorher entweder keiner kannte oder die mal hier und mal dort anheuerten. Seine grösste Errungenschaft ist, dass er ausgerechnet in der steinreichen Premier League ein altes britisches Sprichwort ausser Kraft setzte:

You pay peanuts, you get monkeys.

Kaum etwas zahlen musste Leicester City für seine Profis, die Offensivgeister Jamie Vardy und Riyad Mahrez, die 38 der 59 Tore Leicesters in dieser Saison erzielt haben, kosteten zusammen zwei Millionen Euro. Vardy und Mahrez haben sich zu Diamanten entwickelt. Sicherlich half auch der Faktor Zufall mit. Niemand konnte bei der Verpflichtung ahnen, dass N’Golo Kanté vom französischen Erstligisten SM Caen die Antriebsfeder des Teams wird, die nun mehrere europäische Spitzenklubs in ihren Reihen wissen möchten.



Leicester City's Jamie Vardy during the English Premier League soccer match between Sunderland and Leicester City at the Stadium of Light, Sunderland, England, Sunday, April 10, 2016. ()

Ein Diamant zum Schnäppchenpreis: Leicester City steht auch dank der Transferpolitik ganz oben, wie das Beispiel von Jamie Vardy zeigt. (Bild: AP Photo/Scott Heppell)

Der Konkurrenz dürfte es möglich sein, einige Leicester-Profis in naher Zukunft aus ihren Verträgen zu locken. Der Teamgeist, der sich bei den Foxes etabliert hat, lässt sich jedoch nicht mit Geld bezahlen. «Wenn es hart auf hart kommt, halten wir zusammen», sagte der Deutsche Robert Huth einmal. Und in der Disziplin «hart auf hart» kennt sich der Innenverteidiger, der aufgrund seines Geburtsortes «The Berlin Wall» genannt wird, nun wirklich aus.

Ranieri kommt auch zweimal zu einem Spieler-Geburtstag

Dazu passt, dass Linksverteidiger Christian Fuchs dem «Guardian» erzählte, dass Trainer Ranieri gleich zweimal zu seiner Geburtstagsfeier erschienen sei, weil er offenbar die Einladung nicht genau genug gelesen hatte. Die Frage ist nur: Wäre Ranieri auch zur Party erschienen, wenn Leicester auf einem Abstiegsplatz gestanden hätte?

Die Präsenz des Erfolgs erleichtert sicherlich den Umgang innerhalb des Teams, aber Leicesters Spirit basiert nicht auf vornehmen Gesten, sondern der Tatsache, dass die Spieler sich für ein gemeinsames Ziel begeistern können. Ihre Karrieren verliefen ja bislang eher im Abseits der medialen Aufmerksamkeit. Huth wurde als einziger Leicester-Profi schon zweimal Meister mit dem FC Chelsea, eine tragende Rolle kam ihm dabei nicht zu.



Football Soccer - Leicester City v West Ham United - Barclays Premier League - The King Power Stadium - 17/4/16 A t shirt with Leicester manager Claudio Ranieri on it before the match Action Images via Reuters / Carl Recine Livepic EDITORIAL USE ONLY. No use with unauthorized audio, video, data, fixture lists, club/league logos or

Als griechischer Nationaltrainer verlor er gegen die Färöer mit 0:1, in Leicester wird Claudio Ranieri als Genie gefeiert. (Bild: REUTERS/Carl Recine)

Leicesters Fans verehren den Reisemann Ranieri, der bereits für 14 verschiedene Vereine in fünf Ländern tätig war. Sie finden, dass sich Ranieri, der mehrmals mit seinen Teams knapp an einer Meisterschaft scheiterte, zu einem Genie entwickelt hat. Er kam ja mit dem Empfehlungsschreiben, als griechischer Nationaltrainer nach nur vier Monaten entlassen worden zu sein. In seine Amtszeit fiel auch das 0:1 der Griechen gegen die Färöer. Bei Leicester hat Ranieri gelernt, seine taktischen Idealmuster lediglich gezielt einzusetzen und die Anregungen der Spieler miteinzubeziehen.

Um sportliche Helden auf Ewigkeit zu werden, benötigen Trainer und Spieler von Leicester City maximal noch drei Siege aus vier Spielen. Die Saison beendet Leicester am 15. Mai beim amtierenden Meister Chelsea. Claudio Ranieri könnte also im Stadion seines ehemaligen Arbeitgebers die Trophäe abholen – und allen eine lange Nase zeigen.

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Mehr zum Thema:

Das Team in der Übersicht bei Transfermarkt.de.

Das restliche Programm in der Premier League in der Übersicht von Weltfussball.com.

Die aktuelle Tabelle:

(Quelle: weltfussball.com)

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