Am Dienstag spielt die Schweiz in der EM-Qualifikation gegen Leader England (20.45 Uhr). In der heimischen Liga des Tabellenführers führt die finanzielle Entwicklung dazu, dass Fans der hochglänzenden Premier League den Rücken kehren.
Über drei Stunden sind es noch bis zum Anpfiff, aber die fünf Jungs können sich nicht mehr zurückhalten. Vor dem brandneuen Stadion im Nordosten von Manchester legen sie sich gegenseitig die Arme um die Schultern und stimmen an: «This is our club, belongs to you and me/ We’re United, United FC!»
Es ist ein sonniger Freitagnachmittag Ende Mai, und es ist ein grosser Tag: Zehn Jahre sind vergangen, seit die Fans ihrem alten Klub, dem legendären Manchester United, den Rücken kehrten und ihren eigenen Verband gründeten, FC United of Manchester. Das Jubiläum wird bombastisch gefeiert, mit der Einweihung des Broadhurst-Park-Stadions und einem Spiel gegen Benfica Lissabon.
Das Lied der fünf United-Anhänger ist wörtlich zu verstehen: Der Klub gehört tatsächlich den Fans. Er ist der prominenteste in einer ganzen Reihe von Vereinen, die dem Kommerz des englischen Fussballs entsagt haben und dem Spiel das zurückgeben wollen, was man in der Premier League schon lange nicht mehr findet: gute Atmosphäre, erschwingliche Eintrittspreise und Mitsprache der Fans.
Für den gleichen Preis mehr Spass in unteren Ligen
«Bei Manchester United geht es nur ums Geld», sagt Stephen Hoare, der ebenfalls einige Stunden vor Anpfiff gekommen ist, um das neue Stadion zu bewundern. Vierzig Jahre lang feuerte der ehemalige Metallarbeiter Manchester United an, in den 1970er-Jahren gründete er sogar einen Fanclub in seiner Heimatstadt Mansfield.
Aber ab Mitte der 1990er-Jahre bereiteten ihm die Spiele im Old Trafford immer weniger Vergnügen: «Der Klub wollte mich nicht als Fan, sondern als Kunden. Permanent versuchten sie, mir etwas zu verkaufen.»
Die gesellschaftlichen Umwälzungen der Regierungsjahre Margaret Thatchers begünstigten diesen Prozess: Wendige Finanzmanöver und das Ausschöpfen jeglicher Profitmöglichkeiten galten zunehmend als achtbar und sogar wünschenswert. Die anschwellenden Geldströme in der Football League flossen verstärkt in die Taschen der erfolgreicheren Vereine, die mit der Gründung einer eigenen Liga liebäugelten.
Nach dem Hillsborough-Desaster trafen die Behörden eine Reihe von Massnahmen, die das Fussballerlebnis sicherer, aber auch teurer machten: Die marode Infrastruktur wurde mit öffentlichen Geldern saniert, der Ticketverkauf schärfer kontrolliert, und die grossen Stadien wurden mit Sitzplätzen ausgestattet.
Mit der Gründung der Premier League erreichten die Transfersummen lächerliche Ausmasse
Ihren Wunsch, in einer exklusiveren Liga zu kicken, erfüllten sich die Spitzenclubs schliesslich 1992: 22 Klubs gründeten die Premier League, die sich das Recht vorbehielt, ihre eigenen Sponsoren- und TV-Deals auszuhandeln.
Eine direkte Folge des Preisanstiegs ist, dass die Leute auf den Zuschauerrängen immer älter werden: Das Durchschnittsalter liegt heute bei 41 Jahren.
Damit war der wichtigste Schritt hin zum heutigen Kommerz vollzogen: In den folgenden Jahren explodierten die Ticketpreise und die Einnahmen aus Fernsehrechten, und die Transfersummen erreichten geradezu lächerliche Ausmasse.
Paradoxerweise konnte die Premier League nur dank staatlicher Interventionen überhaupt zu der Geldmaschine werden, die sie heute ist, sagt der Fussballexperte und Buchautor David Goldblatt («The Game of our Lives: The Meaning and Making of English Football»): «Niemand war Anfang der 1990er-Jahre bereit, die Investitionen zu tätigen, die für die Sanierung der Stadien nötig waren. Lustigerweise gründet also das neoliberale Modell des englischen Fussballs auf einer ganzen Reihe von staatlichen Eingriffen.»
Rekordeinnahmen und Millionenschulden
In der Spielzeit 2013/2014 erzielte die Liga ein Rekordeinkommen: Insgesamt fast 3,3 Milliarden Pfund brachten die Klubs zusammen, ein Anstieg von 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Über die Hälfte des Geldes stammt aus TV-Rechten, ein Viertel aus dem Ticketverkauf und der Rest aus kommerziellen Aktivitäten wie Sponsoring und Immobiliengeschäften.
Goldblatt beschreibt das Geschäftsmodell des englischen Fussballs als völlig absurd: Massive Geldflüsse bereichern eine winzige und höchst spezialisierte Arbeiterschaft – also die Spieler –, bringen jedoch keinen Profit ein. Tatsächlich verzeichneten die Klubs der Premier League in der Saison 2012/2013 insgesamt einen Verlust von fast 300 Millionen Pfund, die meisten Vereine kämpfen seit Jahren mit Millionenschulden.
Die Verteuerung des Stadionbesuchs
Die augenfälligste Entwicklung für die Fans ist die Verteuerung des Stadionbesuchs: Seit den frühen 1990er-Jahren sind die Ticketpreise um sagenhafte 1000 Prozent angestiegen. «Das zählt im heutigen Neoliberalismus als unternehmerischer Scharfsinn: Mittels hoher Preise wird eine ganze Gruppe von Kunden einfach aus dem Markt gedrängt», sagt Goldblatt.
In der Bundesliga kostet eine Eintrittskarte in der billigsten Kategorie durchschnittlich 14.60 Euro, in der Premier League muss man dafür fast dreimal so viel bezahlen. Eine direkte Folge des Preisanstiegs ist, dass die Leute auf den Zuschauerrängen immer älter werden: Das Durchschnittsalter liegt heute bei 41 Jahren.
Während sich immer weniger Leute am unteren Ende der Einkommensleiter den Weg auf die Tribüne leisten können, tümmeln sich auf den VIP-Reihen vermehrt Superreiche aus aller Welt: Für russische Oligarchen, amerikanische Milliardäre und Grossindustrielle aus Ostasien ist der Besitz eines englischen Vereins eine Prestigesache.
Das fragwürdige Geschäftsmodell der Familie Glazer
Ganz fingerfertig waren die amerikanischen Besitzer von Manchester United: 2005 borgte sich die Familie Glazer grosse Geldsummen, um den Klub zu kaufen, und übertrug die Schulden – schwupp – einfach dem Verein, sodass die Fans mit dem Kauf ihrer Saisonkarten im Prinzip Schuldendienst für die Glazers leisten.
Auch viele andere Eigentümer von Premier-League-Klubs scheren sich nicht um ihren Verein und haben kaum Bedenken, sie in finanzielle Schieflage zu bringen. So geschah es etwa mit dem Portsmouth FC, der gleich zweimal innerhalb von drei Jahren Insolvenz anmelden musste.
Immer mehr Zuschauer verabschieden sich gleich vollends aus der protzigen Premier League und kehren zurück zum authentischeren und spannenderen Spiel in den unteren Ligen.
Nebst den Ticketpreisen war denn auch die Empörung über ruchlose Eigentümer zu einem guten Teil verantwortlich für die Welle von Aktivismus, die seit einigen Jahren durch den englischen Fussball schwappt, sagt Goldblatt: «Die Geldmenge, die in den Sport fliesst, wird immer extremer, und das hat eine Reaktion der Fans hervorgerufen.»
Fanclub nach dem Vorbild St. Paulis
Die Vorstösse nehmen verschiedene Formen an. Einige Anhänger gründen ihre eigenen Klubs – AFC Wimbledon ist nebst United of Manchester das bekannteste Beispiel; andere kaufen sich ihren Klub zurück, wie die Fans von Portsmouth FC, die ihren Verein 2013 so vor dem Konkurs retten konnten; und immer mehr Zuschauer verabschieden sich gleich vollends aus der protzigen Premier League und kehren zurück zum authentischeren und spannenderen Spiel in den unteren Ligen.
Im Osten Londons beispielsweise haben Fans des Clapton FC – der in der 9. Liga spielt – einen ausgesprochen politischen Fanclub nach dem Vorbild St. Paulis gegründet, der mit Leidenschaft gegen Homophobie, Rassismus und Sexismus ansingt.
Um die verschiedenen Anliegen der Fans zu bündeln und dem Aktivismus eine gemeinsame Richtung zu geben, hat David Goldblatt das Football Action Network (FAN) mitgegründet. Die Forderungen reichen von besserer Bezahlung für die Angestellten und stärkerer Mitbestimmung der Fans bis zu grösseren Investitionen in den Nachwuchs.
Forderung nach Investitionen im Juniorenbereich
Es gehe darum, ein kulturelles Umdenken zu forcieren: «In der britischen Politik wie im britischen Fussball ist vergessen gegangen, dass es Dinge gibt, die kollektiv verwaltet werden müssen, und dass Klubs, Fans und Unternehmen eine soziale Verantwortung tragen.»
Das zeige sich etwa an der Förderung der Jugendklubs, sagt Goldblatt weiter: «Anders als in England subventioniert die Bundesliga die Trainerausbildung stark. Pro Kopf gibt es dort viermal mehr Trainer. Wenn England einen grösseren Pool an technisch versierten Spielern will, müssen wir mehr ins Nachwuchstraining investieren.»
In der Premier League gehts für die einen nur noch um ein Mittagessen
Goldblatts persönliches Interesse an der Premier League ist schon lange erlahmt. Einst hing er Tottenham Hotspur an, aber mittlerweile will er nur noch wissen, ob sie am Ende der Saison vor Liverpool abschneiden – wenn sie es nicht schaffen, muss er seinem Freund Johnny ein Mittagessen bezahlen.
In Bristol, wo Goldblatt seit 12 Jahren wohnt, verfolgt er sowohl die Spiele von Bristol City als auch Bristol Rovers, jeweils in der zweiten und vierten Liga. «Was für ein Vergnügen!», sagt er begeistert.