Der FC Sion und die Irrationalität des Cups – Geschichten eines Mythos

Bei seinen zwölf Finalsiegen hat der FC Sion als Unterklassiger gewonnen, Elfmeterschiessen für sich entschieden, bei denen Spieler antraten, die gar nicht auf der Liste standen – und Torhüter erlebt, die vor lauter Druck in Tränen ausbrachen.

ZUM FUSSBALL CUPFINAL ZWISCHEN DEM FC BASEL UND DEM FC SION AM SONNTAG, 7. JUNI 2015, IM ST. JAKOB PARK IN BASEL STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Alain Geiger mit dem Pokal, Torhueter Stephane Lehmann, Bundesraetin Ruth Dreifuss, Christian Constantin, Praesident des FC Sion, und weitere Spieler (v.l.n.r.) freuen sich am Pfingstmontag, 5. Juni 1995 ueber den Sieg des FC Sion beim Schweizer Fussball Cupfinal gegen GC im Stadion Wankdorf in Bern. Der FC Sion gewinnt den Final 4:2. (KEYSTONE/Str) (Bild: Keystone/STR)

Bei seinen zwölf Finalsiegen hat der FC Sion mitunter als Unterklassiger gewonnen, Elfmeterschiessen für sich entschieden, bei denen Spieler antraten, die gar nicht auf der Liste standen – und Torhüter erlebt, die vor lauter Druck in Tränen ausbrachen.

Der FC Sion bestreitet am Sonntag gegen den FC Basel seinen 13. Cupfinal (14 Uhr, St.-Jakob-Park). Er steigt in dieses Endspiel mit der Kraft, die ihm zwölf Titel aus zwölf Endspielen verleihen. Auf diesen Erfolgen basiert der Mythos der Walliser Unbesiegbarkeit.

Wer auch immer der Gegner ist, was auch immer die Umstände sind – der FC Sion gewinnt. Und das ist kaum zu erklären: «Dieses Phänomen ist mit Worten nicht zu beschreiben», sagt Christophe Bonvin, «es wird ganz einfach gelebt, es gehört in die Welt des Irrationalen.» Bonvin hat den Cup mit den Sittenern zwischen 1986 und 1997 selbst viermal gewonnen. Die Grandeur des FC Sion, sie gründet auf diesem einmaligen Palmarès.

Der Verein hat weder den Erfahrungsschatz noch die Geschichte eines FC Basel, der Grasshoppers oder von Servette. Die ersten Erfahrungen in der Nationalliga A gehen auf das Jahr 1962 zurück, den ersten Cupfinal gewannen die Walliser 1965.

Damals konnte niemand ahnen, dass die Geschichte dereinst eine derartige Dimension annehmen würde. 50 Jahre danach sind elf weitere Kapitel der Legende geschrieben, deren Nährboden diese Cup-Siege sind.

«Den Druck, gewinnen zu müssen, den gab es nicht», erinnert sich Jean-Claude Donzé, Cupsieger 1974 als Spieler sowie 1982 und 1986 als Trainer. Damit ist Donzé der einzige Sion-Coach, der zwei Mal den Cup geholt hat.

Das Phänomen Balet

Die Irrationalität, von der Bonvin spricht, manifestierte sich bereits zu seiner Zeit. Beispielsweise bei Alain Balets Ausgleichstreffer gegen Servette im Jahre 1986, durch eine unglaubliche Volleyabnahme.

«Ich hätte niemals dort stehen dürfen», erzählt Balet. Trainer Donzé schrie an der Seitenlinie: «Zurück, Alain!» Der Verteidiger, eigentlich ein Rechtsfuss, erinnert sich: «Ich habe nicht überlegt und den Ball instinktiv mit dem linken Fuss direkt abgenommen.»

Fünf Jahre später fügte Sion seiner Cup-Legende eine beispiellose Wendung hinzu: David Orlando und Alexandre Rey wurden in der Pause eingewechselt, erzielten drei Tore und drehten so die Partie, in der Sion gegen die Young Boys mit zwei Treffern zurückgelegen hatte. «Der Mythos wurde durch diese Partie gestärkt. Die Walliser hätten das Spiel eigentlich verlieren müssen, sie haben es aber gewonnen», erinnert sich Bonvin.

Als Raphaël Wicky keinen Penalty schiessen wollte

Und die verrückten Ereignisse nahmen kein Ende: Der verletzte Yvan Quentin stand 1997 nicht in der Startaufstellung für den Final gegen den FC Luzern. In der Verlängerung wurde er eingewechselt und verwandelte im Elfmeterschiessen den entscheidenden Penalty, obwohl er auf der Liste des Trainers Alberto Bigon eigentlich gar nicht als Schütze aufgeführt war.

«Ich war im falschen Moment am falschen Ort. Raphaël Wicky wollte den sechsten Elfmeter nicht schiessen, ich stand neben dem Trainer und der sagte: ‹Los, du schiesst.›» Und Quentin verwandelte den einzigen Elfmeter, den er in seiner Karriere als Berufsfussballer je geschossen hat.

2006 gewann der FC Sion als erste Mannschaft aus einer unteren Liga den Cup. «In diesem Moment denkst du dir, dass nichts mehr unmöglich ist, wenn du dieses Trikot trägst», sagt Gelson Fernandes. Sein Mitspieler Goran Obradovic war damals zum ersten Mal Teil dieser speziellen Beziehung zwischen dem Wallis und dem Schweizer Cup.

Es taucht immer einer auf, den keiner auf der Rechnung hat, um die Walliser auf die Erfolgsstrasse zu führen.

«Die Leute klopften mir auf die Schulter und sagten: ‹Wir geben keinen Deut auf den Aufstieg in die Super League, wir müssen einfach den Cup gewinnen.› Diese Haltung war für mich unverständlich», sagt Obradovic.

«Meine sportliche Einstellung hat einen Aufstieg immer höher eingestuft als einen Sieg in einem Cupwettbewerb. Im Wallis aber sehen sie das anders.» Obradovic hat sich mit dieser Besonderheit angefreundet und den Cup 2009 und 2011 gewonnen, den zweiten als Captain.

Ein Müsterchen der Sittener Comebacks in ihren Cup-Endspielen – hier 2009 auf Berner Kunstrasen gegen die Young Boys:

Die letzten Spielzeiten haben den sportlichen und wirtschaftlichen Graben zwischen Sion und Basel anwachsen lassen, doch das beunruhigt Sions Trainer Didier Tholot nicht. Schliesslich hat er 2009 denjenigen Final gewonnen, in dem die Rollen am eindeutigsten verteilt schienen: YB war Erster der Meisterschaft, Sion kämpfte gegen den Abstieg, und der Final wurde auf dem Kunstrasen im Berner Stade de Suisse ausgetragen. 0:2 lagen die Sittener im Rückstand, um am Ende mit 3:2 zu gewinnen. Guilherme Afonso erzielte das entscheidende Tor.

Sechs Jahre später ist der unverhoffte Torschütze nicht mehr aktiv, mittlerweile ist er in Angola in der Immobilienwirtschaft tätig. Dieser Werdegang symbolisiert die verrückte Beziehung des FC Sion zum Cup: Es taucht immer einer auf, den keiner auf der Rechnung hat, um die Walliser auf die Erfolgsstrasse zu führen.

Fern von Logik, Taktik und Kontrolle

Pierre-Marie Pittier nahm diese Rolle 1982 gegen den FC Basel ein. Der einzige Torhüter, der aus dem eigenen Nachwuchs kam und den Cup im rotweissen Trikot gewonnen hat, entschärfte alle Schüsse der Basler. Und er beendete den Match unter Tränen: «Ich habe geweint, dermassen gross war der Druck vor dem Spiel gewesen, derart hatten es die Kritiker auf mich abgesehen. Das hat mich sehr geschmerzt», gesteht er.

Der aktuelle Torhüter Andris Vanins wird sich diese Gedanken am Sonntag nicht machen müssen, auch wenn er in der letzten Meisterschaftsrunde fehlerhaft agierte. Der Lette hat in zehn von 20 Spielen in diesem Frühling, in 18 der gesamten Meisterschaft und in zwei Cuppartien kein Gegentor kassiert. Zudem hat das Team in der Rückrunde 30 Punkte geholt, Basel 37, während in der Vorrunde das Punktetotal der beiden Teams 15 und 41 betragen hatte.

Zu diesen Realitäten gesellt sich eine Überzeugung, die alle Walliser teilen, wenn sie an den Final reisen: Der FC Sion wird eines Tages einen Final verlieren. Aber es wird nicht dieser sein.

Weil die Fans wissen, dass sich ein solcher Final fern jeglicher Logik, fern jeglicher Taktik und fern jeglicher Kontrolle abspielt, wenn ihre Mannschaft auf dem Feld steht.

* Erstmals seit Regeleinführung 1984 Entscheidung im Penaltyschiessen statt Wiederholungsspiel
** Erster Cupsieg eines unterklassigen Vereins seit 1925
Die 12 Endspiele des FC Sion im Schweizer Cup
Jahr Ort Begegnung Resultat
1965 Bern FC Sion–Servette FC 2:1
1974 Bern FC Sion–Neuchâtel Xamax 3:2
1980 Bern FC Sion–Young Boys 2:1
1982 Bern FC Sion–FC Basel 1:0
1986 Bern FC Sion–Servette FC 3:1
1991 Bern FC Sion–Young Boys 3:2
1995 Bern Grasshoppers–FC Sion 2:4
1996 Bern Servette FC––FC Sion 2:3
1997 Bern FC Luzern–FC Sion 4:5 n.P (3:3)*
2006 Bern Young Boys–FC Sion 3:5 n.P (1:1)**
2009 Bern Young Boys–FC Sion 2:3
2011 Basel Neuchâtel Xamax–FC Sion 0:2

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