Der Mann mit der kindlichen Lust am Fussball

Das Spiel namens Fussball scheint in Argentinien wieder um Lionel Messi zu kreisen. Ein Blick auf den «Kaiser», wie er inzwischen betitelt wird, vor dem Spiel gegen die Schweiz.

Selbst in Indonesien ein Star: Lionel Messi. (Bild: Keystone)

Das Spiel namens Fussball scheint in Argentinien wieder um Lionel Messi zu kreisen. Ein Blick auf den «Kaiser», wie er inzwischen betitelt wird, vor dem Spiel gegen die Schweiz.

Warum er Weltmeister werden will? Bei der Frage musste Lionel Messi dann doch ein wenig lachen. «Weil es bestimmt nichts Schöneres gibt, als Weltmeister zu sein». Der Mann ist immerhin schon mal Vater geworden und hat auch sonst so einiges erlebt. Die Sache ist ihm also wirklich wichtig. So wichtig, dass während der ganzen Klubsaison die These im Raum stand, er würde sich für diese Weltmeisterschaft etwas zurücknehmen.

Es war, wohlgemerkt, eine der freundlicheren Erklärungen für die Menschwerdung, der die Besucher der Spiele des FC Barcelona im Besonderen und die globale Fussball-Gemeinde im Allgemeinen in den letzten Monaten beigewohnt hatten. Fast begann man sich damit abzufinden: Ja, Messi schiesst immer noch viele Tore. Ja, Messi kann immer noch geniale Momente produzieren. Aber nein, irgendwie war Messi nicht mehr Messi.

Messi ist wieder Messi

Bis nach seinem 27. Geburtstag unweit der argentinischen Grenze die Sonne aufging und wieder ein WM-Spiel angepfiffen wurde. Es waren nicht die beiden Tore beim 3:2 gegen Nigeria, das erste ein entschlossener Abstauber, das zweite ein wundervoller Freistoss. Tore, so wichtige wie schöne, hatte er auch schon in den ersten Spielen gegen Bosnien und den Iran geschossen – und trotzdem diesen seltsam apathischen Gesamteindruck hinterlassen. In Porto Alegre gegen Nigeria war es einfach so, dass Messi wieder Messi war.

Der Antritt, das Tempo, die Ballführung. Die Finten, die Tricks, die Drehungen. Die Körpersprache. Die kindliche Lust am Fussball und die absolute Entschlossenheit, den Ball nur für einen Mitspieler oder bei einem Foul vom Fuss zu lassen. Manchmal merkt man erst, wie sehr etwas gefehlt hat, wenn es wieder da ist.

Kein Superlativ, der nicht schon gebraucht, keine Umlaufbahn, in die er nicht schon geschossen worden wäre.

Das gilt auch für die ganzen Metaphern. Jahrelang gehörten sie zum Fussball wie das Tattoo und die Spielerfrau. Nach den Champions-League-Spielen gegen Barcelona, wenn Messi mal wieder drei, vier, fünf Tore geschossen hatte, sassen die gegnerischen Trainer in den Pressekonferenzen und rangen nach Worten. Die eigenen Trainer sowieso. Und die Medien erst recht. Irgendwann fiel ihnen nichts mehr ein, kein Superlativ, der nicht schon gebraucht, keine Umlaufbahn, in die er nicht schon geschossen worden wäre.

Am Mittwoch in Porto Alegre gab es endlich mal wieder etwas Neues. Stephen Keshi, der Trainer der Nigerianer, hatte eine Entdeckung gemacht: «Messi ist vom Jupiter», sagte er. Jupiter, der König der Planeten.

Ein Turnier der Stars

Gewissermassen hat diese WM am dritten Spieltag also ihre Statik gefunden. Allen Unkenrufen zum Trotz ist es auch ein Turnier der Stars. Neymar vor allem, der Brasilianer. Auch Robben, Benzema und, warum nicht, Luis Suárez. Oder James Rodríguez, der junge Kolumbianer. Cristiano Ronaldo hat es nicht geschafft. Dafür hat sich Messi zum Dienst gemeldet. Er fordert seinen Thron zurück, den er jahrelang so selbstverständlich besetzte wie vor ihm nur Pelé und Maradona.

Sinnbildlich nahm Leo vom Jupiter dazu Revanche an Nigerias Torwart Enyeama, der ihm vor vier Jahren in Südafrika mit seinerseits übermenschlichen Paraden ein Tor verwehrt und damit für die unschöne Statistik von acht Jahren ohne WM-Treffer gesorgt hatte, die Messi ziemlich gequält haben dürfte. In den letzten Minuten der ersten Hälfte trugen die beiden ein faszinierendes Duell aus. Freistoss Messi, Enyeama pariert. Eine Minute später wieder: Freistoss Messi. Enyeama weiss genau, wohin der Ball gehen wird. Er kann ihn trotzdem nicht halten. Zu gemein die Kurve, zu nah am Innenpfosten der Einschlag.

«Kaiser Messi», titelte nun Argentiniens Sportblatt «Olé». Noch ein neuer Titel.

Für Argentinien war es das erste Freistosstor bei einer WM seit 32 Jahren. Damals hatte Daniel Pasarella verwandelt. «El Kaiser», wie der Libero auch genannt wurde. «Kaiser Messi», titelte nun Argentiniens Sportblatt «Olé». Noch ein neuer Titel.

Immer schön nach vorn

Wichtiger als alle historische Symbolik war jedoch die Erkenntnis, dass mit Messi endlich auch Argentinien in dieser abenteuerlichen WM angekommen ist. Nach den zähflüssigen Auftritten der ersten Spiele agierte das Team diesmal seinem Naturell entsprechend, was bedeutet: Immer schön nach vorn. Etliche Torchancen für den Gegner, aber noch mehr für Di María, Higuaín, Agüero, Lavezzi, Messi. «So sehr wir auf unsere Offensivkraft vertrauen und versuchen den Stürmern zu helfen», erklärte Aussenverteidiger Zabaleta, «so sehr wissen wir, dass wir grundsätzlich offen stehen. Das sind die Risiken, mit denen wir spielen.»

Ironischerweise wollte Trainer Alejandro Sabella an sich genau so nicht spielen. Deshalb bot er im ersten Spiel gegen Bosnien eine Fünfer-Abwehrkette auf. In der Halbzeitpause wiesen ihn Kapitän Messi und sein Klubkumpel Javier Mascherano, «El jefecito» – der kleine Chef – darauf hin, dass es so nicht weiter gehen würde. Nach Spielschluss wiederholten sie dieses Taktikverbot öffentlich. Und für alle Fälle – offenbar hält er den Trainer für etwas begriffsstutzig – schob Messi auf einer Pressekonferenz am Tag danach noch einmal hinterher: «Wir sind Argentinien, ich denke, wir müssen immer die Initiative innehaben». Mit Mittelfeldmann Fernando Gago, dem Ersatz für den fünften Verteidiger, «verstehe ich mich. Als er ins Spiel kam, bin ich ein paar Meter weiter nach vorn, und die Dinge haben sich gebessert». Seitdem gibt es keine Systemdebatte mehr in Argentinien.

Wie viel Autorität dem spröden Sabella noch geblieben ist, liess sich gegen Nigeria vor allem in einer Szene gut beobachten. Da nahm der für den verletzten Agüero eingewechselte Ezequiel Lavezzi an der Aussenlinie taktische Anweisungen seines Vorgesetzten entgegen – und spritzte ihm dabei mal eben seine Wasserflasche ins Gesicht.

Doch wenigstens Argentiniens Chef de Mission ist klug genug, den Coach nicht weiter bloss zu stellen. Messi liess sich gegen Nigeria artig eine halbe Stunde vor Schluss auswechseln und erklärte die Massnahme später zur Hoheit des Trainers: «Er hat mir gesagt, dass er mich runter nehmen würde, und er hat es getan.» Ausserdem rief er die Sabella ja aus gutem Grund so wichtige Verteidigungskompetenz zum Klassenziel für die nächsten Tage aus. «Wir haben ein gutes Argentinien gesehen, aber wir wollen mehr. Jetzt müssen wir an unserem Abwehrverhalten arbeiten, damit wir keine Tore mehr bekommen.» Nur wenn Argentinien dieses Gleichgewicht findet, ist es wohl wirklich ein Titelkandidat.

Obwohl: Dieses Spiel namens Fussballs scheint nun ja endlich wieder um Lionel Messi zu kreisen. Dass es noch mal soweit kommen könnte, haben sie im Umfeld von Kaiser Jupiter I. offenbar am allerwenigsten erwartet. «Ich will ehrlich sein: Leo läuft nicht, er überzeugt mich nicht, ich finde ihn ziemlich lasch», sagte ein älterer Herr einen Tag vor dem Spiel dem Fernsehsender «Canal 3 Rosario». Es war Antonio Cuccitini – Messis Grossvater.

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