Auf was soll man sich überhaupt noch verlassen im Welttennis? Ganz zum Schluss im Jahr 2017, bei der ATP-Weltmeisterschaft in London, auch nicht mehr auf den Besten dieser Epoche, auf Roger Federer. Jedenfalls hatte er in dieser erstaunlichen Saison nicht das letzte Wort, nicht mehr nach dem sensationellen Halbfinal-Scheitern gegen den schmächtigen, nur 68 Kilogramm leichten Belgier David Goffin.
Mit einer makellosen 6:0-Siegbilanz im direkten Vergleich war Federer in diese Partie gegangen – doch dann währte seine Pracht und Herrlichkeit gegen einen vermeintlichen Lieblingsgegner nur einen Satz lang in der ausverkauften 02-Arena. Als am Samstag ganz und gar abgerechnet war, hatte sich nichts weiter als die nächste verblüffende Überraschung in dieser Spielzeit ereignet, allerdings erstmals zum Schaden des Maestros. Und nicht, wie so oft in den vergangenen zehneinhalb Monaten, zu seinem Ruhm und Nutzen.
Nach eindreiviertel Stunden war der 2:6, 6:3, 6:4-Sieg des 26-jährigen Wallonen besiegelt, der im Moment seines grössten Karrieretriumphes völlig entgeistert zu seinen Betreuern blickte. «Das ist ein ganz spezieller Moment in meiner Laufbahn als Profi. Das kommt wirklich unerwartet, ist total überwältigend», sagte Goffin.
Tags darauf war der Zauber schon wieder verbei, unterlag Goffin am Sonntagabend nach zweieinhalbstündigem Kampf dem Bulgaren Grigor Dimitrov im Ringen um den Weltmeister-Pokal mit 5:7, 6:4, 3:6.
Federer hätte seinen siebten WM-Titel gewinnen können, dazu den achten Titel in dieser Spielzeit eines fabelhaften Verletzungscomebacks. Doch ausgerechnet der Meister der Big Points, der Mann mit der zupackenden Energie in den wichtigen Situationen, liess gegen Goffin viel zu viele Chancen liegen. Das verwunderte umso mehr, da Federer die Rolle des Frontrunners liebt, also genau die Situation, die er nach dem souverän gewonnenen ersten Satz geschaffen hatte.
An Goffins Sieg hat Federer nichts auszusetzen
Nach seiner Rückkehr zu Jahresbeginn auf die Centre Courts war Federer der Mann für die herausragenden Schlagzeilen, niemand, nicht einmal er selbst, hätte sich träumen lassen, dass er dieses Jahr 2017 mit sieben Turniersiegen, darunter zwei Grand-Slam-Triumphe, beenden würde.
Deshalb war die Halbfinalniederlage nur ein vergleichsweise lässlicher Schönheitsfehler für den 36-jährigen Altmeister, eine Niederlage, an der er auch nichts auszusetzen hatte: «David hat so gut gespielt heute, dass er den Finaleinzug absolut verdient hat. Das habe ich ihm auch gesagt.»
Auch Goffin ist ein Comeback-Phänomen in dieser Saison, nach einem unglücklichen Sturz in seinem Drittrundenmatch bei den French Open hatte er zwei Monate pausieren und auch auf einen Start in Wimbledon verzichten müssen. Gleichwohl sicherte er sich wie im Vorjahr einen Platz im Feld der Grossen und Starken, zuletzt mit Siegen in Shenzhen und Tokio. Den ersten grossen Traum konnte sich Goffin nicht erfüllen. Aber nächstes Wochenende ist er einer der Hauptbeteiligten beim Davis-Cup-Finale, bei dem Belgien im französischen Lille antritt.
Der Verschleiss der Spitzenkräfte
Sein erstes Ausrufezeichen bei dieser WM hatte Goffin gegen Rafael Nadal gesetzt, der anschliessend seinen verletzungsbedingten Rückzug erklärte. Nadals Zwangsabschied verschärfte die Misere im Männertennis, in dem in den letzten Monaten viele der grossen Namen unter erheblichem körperlichen Verschleiss litten.
So waren die beiden Vorjahresfinalisten der WM, Lokalmatador und Titelverteidiger Andy Murray sowie der Serbe Novak Djokovic in diesem Jahr gar nicht in London dabei. Vorzeitig ihre Saison beendet haben auch die letztjährigen WM-Teilnehmer Stan Wawrinka, Milos Raonic und Kei Nishikori. Ausser Djokovic, der an einer spät entdeckten Fraktur im Ellbogen leidet, haben alle Verletzten ihre Rückkehr für den Jahresbeginn 2018 angekündigt.
Dann wird auch Roger Federer, der gescheiterte WM-Favorit, wieder dabei sein. Erst in Perth beim Hopman Cup an der Seite von Belinda Bencic, dann am Australian Open in Melbourne. Wie die weitere Saisonplanung aussieht, ist noch offen. Am Samstag sagte Federer, «nun erstmal zwei Wochen mit der Familie in Urlaub fahren» und Abstand vom Tennis suchen.