Der Vorwurf der Dekadenz – der FC Barcelona kämpft nicht nur gegen Real Madrid

Ein Trainer in der Kritik, eine Mannschaft mit sonderbehandelten Stars, ein Club im Zwielicht und im internationalen Bann – der FC Barcelona macht schwere Zeiten durch. Und jetzt kann er obendrein aus dem ersten Ausrutscher von Real Madrid keinen Nutzen ziehen.

Real Sociedad's players celebrate scoring against Barcelona during their Spanish first division soccer match at Anoeta stadium in San Sebastian January 4, 2015. REUTERS/Vincent West (SPAIN - Tags: SPORT SOCCER) (Bild: Reuters/VINCENT WEST)

Ein Trainer in der Kritik, eine Mannschaft mit sonderbehandelten Stars, ein Club im Zwielicht und im internationalen Bann – der FC Barcelona macht schwere Zeiten durch. Und jetzt kann er obendrein aus dem ersten Ausrutscher von Real Madrid keinen Nutzen ziehen.

Barcelonas Trainer Luis Enrique ist wegen eines polemischen Wechsels zwischen den beiden Clubs zu Spielerzeiten so etwas wie Real Madrids liebster Feind. Das muss man wissen, um den furiosen Einstieg der spanischen Liga ins neue Jahr vollumfänglich würdigen zu können. Da endete Madrids Siegesserie von 22 Spielen bei einem hochtourigen Match in Valencia, weil die Gastgeber sich auch vom üblichen Elfmeter von Cristiano Ronaldo nicht entmutigen liessen und ein 0:1 noch in ein 2:1 verwandelten.

Doch Luis Enrique schaffte es, dem vermeintlich ersehnten Rückschlag der Madrilenen nach 110 Tagen Unfehlbarkeit jede Konsequenz zu nehmen – indem er Barças Auftritt ein paar Stunden später in San Sebastián epochal vercoachte.



Valencia's Nicolas Otamendi (top) and Lucas Orban celebrate their victory over Real Madrid after their Spanish first division soccer match at the Mestalla stadium in Valencia, January 4, 2015. REUTERS/Stringer (SPAIN - Tags: SPORT SOCCER)

Valencia feiert das Ende der Serie von Real Madrid. (Bild: Reuters)

So ist jedenfalls die allgemeine Lesart des 0:1 bei einer Real Sociedad, die unter ihrem neuen schottischen Trainer David Moyes (ex Manchester United) kaum drei Pässe am Stück zustande bringt, aber nun mit dem Kuriosum aufwarten kann, von insgesamt vier Saisonsiegen drei gegen das Spitzentrio Real Madrid, Atlético und Barça geschafft zu haben – jeden mit einem anderen Trainer.

Rakitic auf dem Abstellgleis

Gegen die Version der Real Sociedad vom Sonntag musste man wohl am wenigsten verlieren. Barça gelang es problemlos. Jordi Albas Eigentor in der zweiten Minute blieb bis kurz vor dem Halbzeitpfiff der einzige Torschuss einer Mannschaft, die auch danach so erlesen daher kam wie ein Warenkorb von der Ramschtheke. Sinnbildlich für den achtlosen Auftritt musste Co-Trainer Unzué dem brasilianischen Star Neymar vor dessen Einwechslung erst noch das Preisschild vom Trikot fummeln.

Die grösste Schelte fuhr sich jedoch wie gesagt sein Chef ein. Nicht nur pflegte Luis Enrique einige seiner Standardfetische: etwa in jedem Spiel eine andere Abwehrreihe zusammenzubasteln oder den ehemaligen Basler Ivan Rakitic – nach seinem Wechsel aus Sevilla anfangs hoch gelobt, inzwischen offenbar auf dem Abstellgleis – erst recht in solchen Partien aussen vor zu lassen, in denen man ihn besonders vermuten würde (diesmal: physisch robuster Gegner und nasser Rasen, ideal für Distanzschützen). Nein, der eigenwillige Trainer verzichtete anfangs neben Neymar auch auf Lionel Messi, ohne den Barça seit Wochen, Monaten und Jahren kaum etwas zustande bringt.

Luis Enrique in der Kritik

Vor einem halben Jahr als Erneuerer gestartet, beurteilt die Mehrheit den Asturianer inzwischen eher so, wie der Herausgeber der clubnahen Zeitung «Sport»: «Er hört nicht zu, lernt nicht und ist ein taktischer Tölpel.» Der Mann, der Barcelona durch die Krise steuern sollte, rückt in ihren Mittelpunkt.



Barcelona's coach Luis Enrique reacts during their Spanish first division soccer match against Real Sociedad at Anoeta stadium in San Sebastian January 4, 2015. REUTERS/Vincent West (SPAIN - Tags: SPORT SOCCER)

«Taktischer Tölpel» – Barcelonas Trainer Luis Enrique muss sich einiges gefallen lassen. (Bild: Reuters/VINCENT WEST)

Wenigstens, so liesse sich einwenden, sind Trainer nicht von dem Einkaufsstopp wegen Verstosses gegen die Transfersperre für Minderjährige betroffen, den der Internationale Sportgerichtshof CAS an Silvester höchstinstanzlich bestätigte. Buchstäblich wie noch nie gilt für ein Jahr nun die alte Fussball-Weisheit: Einen Trainer kann man austauschen, eine Mannschaft nicht.

Die seltsamen Sonderferien

Ob es helfen würde? Aufschlussreich ist vor allem die Vorgeschichte, die Luis Enrique auch selbst zur Begründung seiner Sturmrotation anführte – er hatte Messi und Neymar bis zum 2. Januar frei gegeben, damit sie zu Hause in Südamerika Silvester feiern konnten.

Sonderurlaub für die wichtigsten Spieler bis anderthalb Tage vor dem Auftritt beim Angstgegner (ein Punkt aus den letzten fünf Gastspielen in San Sebastián), in einem engen Titelrennen (ein Sieg hätte angesichts Reals Niederlage die Tabellenführung bedeutet, wenn auch bei einem Spiel mehr) und einer seit Monaten explosiven Gesamtlage rund um das Team – das klingt nicht nach professionellem Sport, sondern so absurd, dass man sich eigentlich nicht ernsthaft vorstellen kann, ein Trainer würde so etwas entscheiden. Es würde also kaum verwundern, steckte da eher wieder irgendeine Vertragsklausel dahinter.

Das Image leidet

Denn das ist ja vielleicht das Problematischste überhaupt für einen Club, der noch vor ein paar Jahren mit seinem Traumfussball, seiner Nachwuchsschule und der Unicef auf der Brust die Welt zu verbessern schien, inzwischen aber für Katar wirbt und vor Gericht steht, unter anderem wegen des Neymar-Transfers: Man hat gelernt, Mauscheleien zu vermuten. Man kann viele Dinge nicht mehr nachvollziehen.



Barcelona's Lionel Messi (R) fights for the ball with Real Sociedad's Inigo Martinez (C) and Alberto de la Bella during their Spanish first division soccer match at Anoeta stadium in San Sebastian January 4, 2015. REUTERS/Vincent West (SPAIN - Tags: SPORT SOCCER)

Mit Lust bekämpfen Inigo Martinez (Mitte) und Alberto (li.) Lionel Messi. (Bild: Reuters/VINCENT WEST)

Wie soll aus einer Mannschaft etwas werden, deren vermeintlicher Leader, der bestbezahlte Fussballer des Planeten, mit dem Beispiel vorangeht, so lange wie möglich Urlaub zu machen? Gibt es überhaupt noch jemanden, der Messi kontrolliert? Und warum geht jeder Transfer daneben? Selbst Luis Suárez hat erst ein Ligator geschossen.

Ohne Ziel, ohne Motivation, ohne Narrativ

Die Zyklen im Fussball sind endlich, das ist bekannt. Irgendetwas geht verloren, und sei es einfach nur der Wille, besonders zu sein. Barça scheint längst in diesem Stadium: eine Gruppe ohne Ziel, ohne Motivation, ohne Narrativ. 160 Millionen Euro Transferausgaben im Sommer haben daran nichts geändert.

Durch das CAS-Urteil muss man es jetzt noch ein bisschen länger miteinander aushalten. Oder auch nicht – Messi jedenfalls soll neuerdings verstärkt mit einem Wechsel zu Chelsea flirten.

Sportchef gefeuert

Die leitenden Angestellten dagegen klammern sich an ihre Posten: Luis Enrique natürlich, der weiter an sich glaubt; Sportdirektor und Chefeinkäufer Andoni Zubizarreta, der die Verantwortung für die Transfersperre elegant in Richtung Präsident Bartomeu schob («Er kannte die ganze Lage am besten»); Bartomeu selbst, der nur durch den Rücktritt seines Vorgängers Rosell während der Neymar-Affäre ins Amt rutschte, aber Neuwahlen partout verhindern will.

Am Montag gab es erste Konsequenzen: Zubizarreta, Ex-Torwart des Vereins, wurde nach fünf Jahren als Sportchef entlassen. Zum Verhängnis wurde ihm neben seiner schwachen Transferbilanz sein Satz über Präsident Bartomeus Rolle in der Transfer-Affäre.

Dekadenz allerorten, und allenfalls eine Hoffnung für 2015: Noch schlechter kann es kaum weitergehen.

 

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