Ende der 1920er-Jahre sind die Schulbuben in Gelterkinden offenbar derart vom Fussballfieber gepackt, dass sich sogar die Verantwortlichen des lokalen FC Sorgen machen. Zwei Dokumente aus einer Zeit, in der noch keine Bewegungsprogramme für Kinder erfunden werden mussten.
Es ist nicht so, dass der 1909 gegründete FC Gelterkinden Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts eine besondere Blütezeit erlebt hätte. Im Gegenteil: Die Weltwirtschaftskrise macht dem Club zu schaffen, 1929 steht er kurz vor der Auflösung. Und doch scheint das Fussballfieber zu grassieren. Wenn nicht bei den Erwachsenen, so doch unter den Kindern, das beweisen zwei Dokumente aus dem Jahr 1927 und 1931, die uns der FC Gelterkinden zugeschickt hat.
Zum 75. Geburtstag des Fussballverbandes Nordwestschweiz kommt es zu einer Kooperation mit der TagesWoche. Das Ziel: Online soll eine interaktive Geschichte des Fussballs in der Region entstehen, auf der die die wichtigsten Ereignisse des regionalen Fussballs, Anekdoten und Erinnerungen auf einer Zeitleiste dargestellt werden.
Im August 1927 wendet sich der FC an die Lehrer von Gelterkinden, denn die wild Fussball spielenden Schüler scheinen einige Besorgnis zu erregen. «Es gibt diesen Kerls nichts zu tun, sich stundenlang auf dem Sportplatz herumzutummeln», schreibt der FCG (siehe Bilder und Abschriften unten). Und weiter: «Dieses lange unvernünftige Spielen ist jedoch für Herz und Körper schädlich.» Der FC Gelterkinden anerbietet sich deswegen, die Aufsicht über das Fussballspiel der Kinder zu übernehmen.
Die Jungen erhalten keinen Ball mehr
Das aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbare Problem, dass sich Kinder zu sehr bewegen könnten, scheint allerdings mit diesem Brief nicht gelöst worden zu sein. Ganz im Gegenteil. Im Protokoll vom 16. April 1929 wird vermerkt: «Adolf Hemmig bringt zur Kenntnis, dass die Junioren schon am Morgen früh um 7 Uhr vor der Bude stehen und vom Material-Verwalter den Ball verlangen. Diesem Unfug sollte Einhalt geboten werden, denn er nehme an, dass die Bürschchen zu Hause gewiss irgend eine Arbeit zu verrichten hätten.» In der Folge wird entschieden, «dass die Jungen für eine gewisse Zeit keinen Ball mehr erhalten sollen».
Weitere zwei Jahre später ergeht dann eine Bekanntmachung an «die Eltern unserer fussballspielenden Jugend» (siehe Bilder und Abschriften unten). Fussball zähle zwar «zu den geeignetsten Spielarten für den jugendlichen Organismus», heisst es darin. Doch aufgepasst! «Leider aber birgt das Fussballspiel auch Gefahren in sich.» Vor allem «Arbeitsscheu und Gewöhnung an ungeregelte Lebensweise» würden drohen. Wieder bietet der FC seine Hilfe an: Indem er die Kinder überwacht – und gleichzeitig für «möglichste Einschränkung der Spielzeit» sorgt.
Sport ja – aber bitte nicht wild
Was aus allen drei Schriftstücken spricht, ist die Angst vor dem unkontrollierten, dem wilden Spiel der Kinder. Sport ja, lautet die Aussage, aber bitte schön klar geregelt. Nur so, war die Überzeugung nicht nur in Gelterkinden, kann das Sporttreiben den Jungen dabei helfen, zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu werden. Heute, im 21. Jahrhundert wird eher das Verschwinden der Strassenfussballer beklagt. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
An die Lehrerschaft von Gelterkinden
Sehr geehrte Herren!
Wir gestatten uns, Ihnen hiemit unsern verbindlichsten für Ihr entgegenkommen auszusprechen und geben gleichzeitig der Hoffnung Ausdruck, auch in Zukunft wieder an Sie gelangen zu dürfen. Diese Gelegenheit nutzend, erlauben wir uns Sie höfl. auszufragen, ob es Ihnen möglich wäre, einen Abend zu einer gemeinsamen Besprechung mit unserem Vorstande über Schule und Sport zu reservieren.
Anlass hiezu gibt uns die forwährend stattfindende unsinnige «Kickerei» der noch schulpflichtigen Jungens (Schüler der letzten Klassen). Es gibt diesen Kerls nichts zu tun, sich stundenlang auf dem Sportplatz herumzutummeln. Dieses lange unvernünftige Spielen ist jedoch für Herz und Körper schädlich. Auch ruhen sie sich in den nassen, verschwitzten Kleidern aus, trinken kaltes Wasser. Die Früchte hievon sind Erkältungen, Lungenentzündung, Herzgeschichten etc.
Das Fussballspielen kann den Jungen doch nicht strickte verboten werden und es wäre deshalb besser, wenn diese Burschen überwacht würden, bevor sie einen körperlichen Schaden davon tragen. Der Fussballclub ist gewillt diese Aufsicht zu übernehmen, wie dies bereits an verschiedenen Orten unseres Kantons der Fall ist (Sissach, Liestal, Muttenz, Allschwil, Birsfelden), sofern sich die Lehrerschaft und die Schulpflege damit einverstanden erklären.
Es wäre uns sehr erwünscht, wenn wir mit Ihnen über diese Angelegenheit sprechen könnten, bevor wir mit einem diesbezüglichen Gesuch an die Schulpflege gelangen.
In der angenehmen Hoffnung, von Ihnen baldigst einen Bescheid zu erhalten, begrüssen wir Sie, Ihnen für Ihre Bemühung zum Voraus bestens dankend mit sportlicher Wertschätzung.
Auch Sie werden schon haben feststellen müssen, dass sich Ihr Sohn in letzter Zeit eher zu seinem Nachteile verändert hat. Er findet Zuhause, in der Stube keine Ruhe mehr. Seine Vorliebe zu Gartenarbeiten ist verschwunden. Seine Schulaufgaben macht er flüchtiger als bisher. Auch von den Sonntags-Spaziergängen der Familie sucht er sich fern zu halten. Für nichts mehr ist er zu haben.
Nur noch nach einem trachtet stets sein Sinn, nach dem Fussballspiel; jede freie Minute verwendet er hiefür. Am Vormittag, am Nachmittag, am Abend, täglich zieht es ihn auf den Fussballplatz. Es ist dies gewiss ein untrüglicher Beweis für die grosse Beliebtheit dieses Spieles bei unserer Jugend, und in der Tat zählt es zu den geeignetsten Spielarten für den jugendlichen Organismus. Die Jugend, vorab die Schuljugend hat ein grosses Bedürfnis, sich von Zeit zu Zeit so richtig auszutoben.
Leider aber birgt das Fussballspiel auch Gefahren in sich. Wird diese Liebe zum Fussballsport zur krankhaften Sucht, so geht jegliches Interesse für andere Dinge verloren, Arbeitsscheu und Gewöhnung an ungeregelte Lebensweise drohen. Dass hierin für die jungen Leute, deren Charakter sich ja erst noch ausbilden und festigen soll, eine ernste Gefahr liegt, die ihr ganzes zukünftiges Leben beeinflussen kann, liegt auf der Hand.
Aber was können wir dieser drohenden Gefahr gegenüber tun? Ein Machtwort des Vaters? Ein radikales Verbot? Nichts wäre verkehrter als das, denn verbotene Früchte locken bekanntlich am meisten. Der Knabe kann von seinem Spiele ja doch nicht lassen, er wird es dann heimlich tun. Dies aber stört das Vertrauen zwischen Eltern und Kind und letzteres wird zum mindesten zum lügen genötigt.
Auch der Vorstand des Fussballklubs hat sich schon mit diesen Fragen beschäftigt und er ist zum Resultate gekommen, dass es hier nur eine richtige Lösung gibt: Die Knaben dürfen nur unter sachkundiger Leitung Erwachsener Fussball spielen, bei möglichster Einschränkung der Spielzeit. Wir haben deshalb beschlossen, folgendes durchzuführen:
Jede Woche wird am Samstagnachmittag für die Schüler und Junioren eine ca. 11/2–2 stündige Spielzeit festgelegt. Zwei Vorstandsmitglieder werden diese Spiele beaufsichtigen und dafür besorgt sein, dass sich keiner über seine Kräfte hinaus anstrengt; sie werden aber auch bestrebt sein, erzieherisch auf die Kleinen zu wirken, wofür uns die beiden Abgeordneten vollkommene Gewähr leisten. Während aller übrigen Zeit ist es ihnen untersagt, zu spielen. Unser Ballwart wird strickte Anweisung erhalten, nur zu der festgesetzten Spielzeit Bälle auszugeben, private Bälle werden konfisziert.
Gelegentlich werden wir dann auch eine auswärtige Schülermannschaft bezw. Junioren nach Gelterkinden kommen lassen. Wir erklären noch ausdrücklich, dass der Besuch dieser festgesetzten Spielzeiten durchaus nicht obligatorisch ist, es steht vielmehr ganz im Belieben eines jeden, mitzumachen.
Wir hoffen, dass wir mit unserm Plan den Wünschen der ganzen Bevölkerung dienen und dass unsere Anregungen auch von derselben gutgeheissen werden. Mit den Uebungsstunden werden wir in den nächsten Tagen beginnen, und geben der Hoffnung Ausdruck, dass dieselben sich eines guten Besuches erfreuen.