Der Fanclub Schweiz ‘93 ist ein Beispiel dafür, dass der emotionale Radius des Traditionsclubs Borussia Mönchengladbach weit über den Niederrhein hinausgeht. Die Geschichte einer Liebe, die in den Siebzigerjahren im Sankt Gallischen Wattwil begann.
Angefangen hat das mit diesem denkwürdigen Trikot. Als Borussia Mönchengladbach noch eine Macht im europäischen Fussball war, trugen die Männer zwischen den Pfosten meist noch Schwarz. Das Jersey von Wolfgang Kleff dagegen war giftgrün und hatte in der Mitte einen breiten, orangen Streifen.
Andi Schröder hat es noch genau vor Augen, weil es damals bis nach Wattwil im Kanton St. Gallen strahlte, wo ein entzückter Junge vor dem Fernseher sass. Dieser Junge, der beim FC Wattwil selbst das Tor einer Jugendmannschaft hütete und Andi Schröder hiess.
Zunächst zählte nur das Trikot, erinnert er, wenn er in den Siebzigern die grossen Partien der Gladbacher Fohlen aus der Ferne verfolgte: die Bundesliga-Duelle mit Bayern München und dem 1.FC Köln sowie die Europapokal-Begegnungen mit Inter Mailand, Real Madrid und Twente Enschede. Weil es ihm das aufregende Gefühl vermittelte, dass da einer «anders als die anderen» und schon dadurch anbetungswürdig war. «Alles übrige ist dann praktisch von allein dazugekommen», sagt er – und meint ein ganzes Leben.
Eine grosse Liebe – seit 20 Jahren und mehr
Eine kleine Liebelei braucht vielleicht grössere Anlässe, um sich für eine Weile zu entfalten. Aber eine grosse Liebe kommt mit fast gar nichts aus, um urplötzlich zu entstehen – und ist dann um so unvergänglicher. So betrachtet, ist es im Grunde schon wieder logisch, dass Andi Schröder auch diesen Donnerstag wieder dabei ist. Wenn die Enkel von Netzer, Kleff & Co. im Borussia-Park ihr fünftes Gruppenspiel der Uefa Europa-League gegen AEL Limassol bestreiten, wird der mittlerweile 47-jährige selbstverständlich an seinem Stammplatz stehen. So wie bei jedem Pflichtspiel, das der Verein seines Herzens in den letzten zwanzig und mehr Jahren bestritten hat.
Hannover und Bremen, Düsseldorf und Marseille: Kein Weg ist dem gelernten KfZ-Meister aus dem Wahlkreis Toggenburg zu weit. Und in Block 17 am Borussia-Park schwenkt er die Schweizer Fahne stets von der gleichen Stelle – flankiert von seiner deutschen Frau Brigitte sowie (meistens) ein paar Freunden des gemeinsam initierten Fanclub Schweiz 93. Ein zuverlässiger Farbtupfer im weiten Rund, der wirksamer als jede langwierige Erhebung den emotionalen Radius des Traditionsclubs vom Niederrhein markiert: Wie sonst nur die Münchner Bayern oder Schalke, zieht er Aficionados aus allen Ecken Deutschlands an – und manchmal auch darüber hinaus.
Der Urs aus Basel, der Didi aus Solothurn
Da ist ja auch noch Urs aus Basel, der als Angestellter der Schweizer Bahn meistens im Zug anreist; neulich in Kiew, beim Rückspiel um den (verpassten) Einzug in die Champions League, war er mit Andi und Brigitte im gleichen Flieger. Oder Didi aus Solothurn, wenn er nicht gerade in der AFG Arena für den FC St.Gallen die Trommel rührt. Kürzlich haben sie sogar Fred aus Potsdam im Fanclub aufgenommen, weil der seit 15 Jahren von ebenso weit her anreist, nur aus anderer Richtung. «Das zeigt uns, dass der genauso bescheuert ist wie wir», sagt Biggi, wie Andi seine Frau nennt.
«Mein Vater hat immer gesagt: Lass den Jungen älter werden, dann wird er auch vernünftiger», erzählt Andi amüsiert, ja fast stolz. «Aber daraus ist dann irgendwie nix geworden.»
Im Gegenteil. Damals reichte es dem Pennäler, ab und zu mit der Mutter nach Karlsruhe zu fahren, wenn sie eine Tante besuchte, und die Borussen beim KSC aufspielen zu sehen. Im Dezember 1980 dann der erste Besuch am Bökelberg. Er pilgert allein zur legendären Spielstätte, kann im Vereinsheim die Pokale fotografieren und ist bald «nur fasziniert, nur glücklich», als die Fohlen Borussia Dortmund 1:0 besiegen.
Der Stammplatz, der nicht angeschrieben ist
Von da an wird die Dosis passend zum wachsenden Einkommen stetig erhöht. Der Stehplatz in Block 15 wird zum Mittelpunkt seiner Welt, und als das Stadion Ende der Saison 2003/04 aufgegeben wird, ist es für ihn, «wie wenn ich zu Hause ausziehen müsst´ und meine Heimat verlier´.»
Heute ist das abgehakt. Andi und Brigitte haben 2004 zur Einweihung des Borussia-Parks mit Toröffnung ihre neue Position bezogen; es ist «ein Stammplatz, der nicht angeschrieben ist» (Andi). Dort sind sie in acht Jahren nur zwei Mal vermisst worden. Und fast ein drittes Mal, als Biggi wegen einer Blinddarmgeschichte im Spital bleiben musste – aber da fuhr Andi dann allein, «das hat sie verstanden, glaube ich.» So kann Mann natürlich nur mit einer Frau umgehen, die ihm vorm Pokalfinale 1995 in Berlin (3:0 gegen VfL Wolfsburg) mit ihren Farbstiften ein Schweizer Kreuz auf die Stirn gemalt hat: Anfang einer Liaison zwischen zwei Seelen, die lieber bescheuert bleiben wollen als etwa Eltern werden.
43‘000 Autokilometer und eine Wohnung in Gladbach
Vernünftig oder gar günstig ist daran tatsächlich wenig. Über die letzte Saison haben sie mit ihrem beklebten Diesel-Kombi in den Vereinsfarben («Die Raute im Herzen») gut 43’000 Fahrkilometer zurückgelegt, wie Brigitte überschlagen hat – und dabei über 5000 Euro ausgegeben. Die Kosten für die Wohnung im Gladbacher Stadtteil Holt, die sie fussläufig zum Stadion unterhalten, sind da noch gar nicht drin.
Hauptsache, sie müssen nach Abpfiff nicht mehr durch die Nacht fahren, um zum nächsten Morgen wieder auf der Arbeit zu sein. So wie in den frühen Jahren, als Andi als Lehrling kaum Geld verdiente und Biggi noch Schwimmlehrerin im Gladbacher Ortsteil Rheydt war.
«Wir sind eigentlich nicht bloss Gladbach-Fans», sagt Andi, «wir leben Gladbach. Da bleibt für ein Kind einfach nicht genug Zeit. Dafür haben wir vor ein paar Jahren die Patenschaft für ein Mädchen aus Gladbach übernommen. Die sehen wir jedes Mal, wenn wir da sind.»
Die Schweizer Temperamente
Gute Phasen, schlechte Phasen, Ab- und Aufstieg: Ein Hauch der grossen Jahre ist für die Fans mit im Spiel, wenn die Borussen nun wieder durch Europa tingeln – 16 Jahre nach ihrem letzten Auftritt im Uefa-Pokal. Verdienst eines erstaunlichen Aufschwungs, den das Team seit Anfang letzten Jahres unter der Regie von Trainer Lucien Favre genommen hat. Um so weniger versteht der treue Mitreisende nach dem zugegeben mässigen Saisonstart, «dass man nun schon wieder alles in Frage stellt. Dank diesem Mann spielen wir ja überhaupt nur in der Europa League.»
Schweizer Gefühle mögen dabei eine gewisse Rolle spielen. Anders herum gab es Borussia-Goalies, die ihnen mehr ans Herz gewachsen sind als etwa Jörg Stiel, der von 2001 bis 2004 zwischen den Pfosten stand. Und wenn sie nach dem Training heute so oft mit Granit Xhaka sprechen, hat das weniger mit einem Reisepass, sondern dessen angenehmer Art zu tun. «Auf dem Platz sind seine Schwankungen oft riesig», resümiert Andi, «aber nach Juan Arango hat er für mich den gefährlichsten Schuss. Seine Stärken liegen eindeutig in der Offensive. Und er ist trotz seines jungen Alters nicht eingebildet. Sehr, sehr freundlich, und wenn wir sprechen, schaut er nie auf die Uhr.»
Der kühle Stratege Favre, der mitunter heissblütige Xhaka: Es sind nicht zuletzt Schweizer Temperamente, die dieser Tage Borussias Geschicke vorantreiben. Sie sind eine Achse im aktuellen Kader, der nach dem Verlust mehrerer Leistungsträger (Reus, Neustädter, Dante) noch seine Mitte sucht. Doch der Motor des Vereins, das sind Bescheuerte wie Andi und Brigitte: «Wir werden auch in zwanzig Jahren noch hier stehen.»