Die Schweiz und der Sprung über den eigenen Schatten

Normal ist, dass die Schweiz gegen Argentinien verliert und dann als guter Achtelfinalist von der WM heimreist. Aber sie hat heute Abend in Sao Paulo (18 Uhr MESZ) im Kampf gegen Lionel Messi ihre Aussenseiterchance.

Die Schweiz und die Schatten der Vergangenheit: Xherdan Shaqiri im ersten Gruppenspiel gegen Ecuador.

(Bild: Reuters/DAVID GRAY)

Normal ist, dass die Schweiz gegen Argentinien verliert und dann als guter Achtelfinalist von der WM heimreist. Aber sie hat heute Abend in Sao Paulo (18 Uhr MESZ) im Kampf gegen Lionel Messi ihre Aussenseiterchance.

Die Achtelfinals zu erreichen war ein realistisches Ziel in einer Gruppe mit Ecuador und Honduras. Aber die eigentliche Absicht der Schweizer war immer eine andere, und Coach Ottmar Hitzfeld hat sie in diesen letzten Tagen seiner grossen Karriere in diese eingängige Formel gefasst: «Geschichte schreiben» wollen sie – und die beginnt «ab den Achtelfinals». Also mit einem Platz unter den besten Acht der Fussballwelt.

Bis jetzt steht die Nationalmannschaft dort, wo sie in der Erfolgsära der vergangenen zwei Jahrzehnte, seit der Zeit Roy Hodgsons, schon zweimal stand – in der ersten K.o.-Runde. Das ist gut, zumal für ein kleines Land wie die Schweiz, für die schon jede Qualifikation für die Endrunde eines grossen Turniers ein Erfolg ist.

Aber noch nie wurde auch in dieser guten Zeit des Schweizer Fussballs die Gelegenheit zu einem Coup genutzt, wie das vergleichbaren europäischen Ländern immer wieder gelang, auch wenn sie weit weniger oft Endrunden erreichten: die Türkei 2002, Kroatien 1998 oder Bulgarien und Schweden 1994, die allesamt die WM-Halbfinals erreichten. Oder – das phänomenalste Beispiel– die Dänen als Europameister 1992.

Die schmerzliche Erinnerung an die WM 2006

Über den eigenen Schatten springen mit einer unüblichen Winnermentalität oder das gewisse Etwas über die klassische Schweizer Konstanz hinaus bieten – das ist, was man sich an diesem Tag von dieser «Nati» erhofft. Das ist es auch, was sich ihr Trainer und die Spieler zum Ziel gesetzt haben. Nach dem in der Vergangenheit der Eindruck vorherrschte, die Schweizer blieben körperlich und vor allem auch mental entkräftet stehen, hatten sie mal das erste Ziel erreicht.

Der Ball, mein Freund: Xherdan Shaqiri.

Der Ball, mein Freund: Xherdan Shaqiri. (Bild: Keystone/DIEGO AZUBEL)

Das war vor acht Jahren in Deutschland besonders schmerzlich, denn die Schweiz hatte eine sehr gute Mannschaft, die auch eine erstklassige Gruppenphase spielte. Und der Achtelfinal-Gegner war die Ukraine, respektabel, aber gewiss keine Übermacht.

Diesmal ist der Widersacher von anderem Zuschnitt, es ist Lionel Messis Argentinien, nicht nur im eigenen Selbstverständnis ein möglicher Weltmeister. Aber in der Verfassung der Vorrunde, als sie fast nur von ihrem Star lebten, ist selbst diese «Albiceleste» keine unantastbare Grösse. Dass sich auch die Schweizer spürbar steigern müssen, ist ebenso ein Fakt. Dazu reicht nicht zu sagen, es sei jetzt «der Druck weg», der bis zum Sieg gegen Honduras so schwer auf den Schweizern gelastet haben soll.

Sechs Tage Zeit zur Regeneration

Eines allerdings ist anders als einst in Deutschland. Damals erreichten die Schweizer in einem zumal physisch aussergewöhnlich anspruchsvollen Spiel gegen Südkorea an einem heissen Freitagabend in Hannover die Achtelfinals; schon drei Tage später mussten sie im nicht minder heissen Köln zum Achtelfinal antreten.

Diesmal liegen zwischen dem Match gegen Honduras und dem Achtelfinal sechs Tage. Hitzfeld konnte es sich also leisten, einem Tag der Regeneration gar einen freien Tag folgen zu lassen. Er konnte seine Mannschaft für dieses grosse Spiel in einer Art aufbauen, wie sie an einer WM schon fast Luxus ist.

Lionel Messi nicht auf Touren kommen lassen – die vornehmste Aufgabe der Schweizer Nationalmannschaft beim WM-Achtelfinal gegen Argentinien.

Lionel Messi nicht auf Touren kommen lassen – die vornehmste Aufgabe der Schweizer Nationalmannschaft beim WM-Achtelfinal gegen Argentinien. (Bild: Reuters/KAI PFAFFENBACH)

Die Deutschen beispielsweise, die Nachbarn in Porto Seguro, beendeten die Gruppenphase einen Tag nach der Schweiz und spielten ihren Achtelfinal einen Tag früher. Keine negative Rolle spielen wird heute auch das Klima, denn rund 20 Grad in Sao Paulo sind mitteleuropäische Verhältnisse.

Behrami: «Nur ein Sieg ist ein Fortschritt»

Es ist, zumindest nach Affiche und Bedeutung, für die Schweiz ein sehr grosses Spiel. Es zieht das ganze Land in seinen Bann. Schliesslich spielt ja auch die Nummer 5 der Weltrangliste aus Argentinien gegen die Nummer 6. Aber wie die Dinge aus Schweizer Sicht eben auch zu sehen sind, formuliert WM-Veteran Valon Behrami: «Wenn wir verlieren, bleiben wir dort, wo wir auch schon waren. Nur ein Sieg ist ein Fortschritt.» Nur ein Sieg wäre eben was für die Geschichtsbücher. Dann allerdings ein grösseres Kapitel.

«Wir haben,» sagt Behrami, mittlerweile ein ziemlich luzider Analytiker, «vor zehn Monaten gegen Brasilien gespielt und gewonnen. Sicher, es war keine WM. Aber wir haben gesehen, was passieren kann.» Wenn man so gut und so aggressiv spielt wie die Schweiz in Basel.

Jenes Spiel kann man aus Sicht Behramis als eine Art Hauptprobe für heute sehen. Und den Match gegen die Franzosen vor zehn Tagen als am Ende gar hilfreiches Beispiel, wie man es nicht machen soll: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir nochmals die selben Fehler machen,» sagt Behrami. «Gegen Honduras haben wir wieder gespielt wie in den letzten zwei Jahren – nur in den zwei Spielen vorher haben wir etwas anderes versucht.»

Das positive WM-Gesicht

Es gibt eine Entwicklung in der Mannschaft. Personell, von Valentin Stocker zu Admir Mehmedi, von Philippe Senderos zu Fabian Schär. Taktisch mit der Retusche, Xherdan Shaqiri dauerhaft und nicht nur für Momente im Zentrum spielen zu lassen. Die Schweiz ist daran, ein positives WM-Gesicht zu finden – allein, auf der andern Seite steht heute Messi. Und der hat zu Recht den Ruf, fähig zu sein, fussballerisch grundsätzlich jedes Problem lösen zu können.

Es gibt eine Chance, aber man muss auch in der Lage sein, sie packen zu können. Dass sich mit den Landsleuten daheim rund 200 Millionen Brasilianer über eine Niederlage des Erzrivalen freuen würden, wird den Schweizern im Stadion kaum eine Hilfe sein. Dort dürften wieder genügend Argentinier sitzen, um Heimspiel-Atmosphäre zu erzeugen.

Erstmals in einem K.o-Spiel an einer WM – und viellicht sein letzter Auftritt als Trainer: Ottmar Hitzfeld.

Erstmals in einem K.o-Spiel an einer WM – und viellicht sein letzter Auftritt als Trainer: Ottmar Hitzfeld. (Bild: Reuters/KAI PFAFFENBACH)

Hitzfelds Premiere als Derniere?

Für Ottmar Hitzfeld ist es das erste K.o.-Spiel als Nationaltrainer. Aber diese Première könnte auch gleich die Dernière sein, das letzte Spiel einer grossen Karriere eben. Danach wird Hitzfeld gefragt, seit er in Brasilien ist. Noch stets hat er dasselbe geantwortet: «Ich gehe nicht davon aus, dass es mein letztes Spiel ist.» Ganz genau weiss er das ja erst dann, wenn es nächster Woche in den Final um Platz 1 oder 3 ginge.

«Frankreich hat uns nochmals die Sinne geschärft, Honduras war der Befreiungsschlag, gegen Argentinien müssen wir über uns hinauswachsen.» So sieht Hitzfeld die Entwicklung seiner Mannschaft, die im Idealfall in den Viertelfinal gegen den Sieger aus Belgien–USA führt. Es wäre dann ja auch der erste Sieg gegen Argentinien und, mehr noch, der erste in einem K.o.-Spiel seit dem 4:2 der alten Schweizer gegen Grossdeutschland in Paris – vor 76 Jahren.

 

 

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