Die Senatoren aus Turin – dieses Bollwerk muss Deutschland überwinden

Es ist ein Viertelfinal mit der Besetzung eines Endspiels: Weltmeister Deutschland trifft an diesem Samstag (21 Uhr) auf Angstgegner Italien. Es ist eine Squadra Azzurra, der vor dem Turnier nichts und inzwischen alles zugetraut wird. Und das mit einer Veteranenabwehr mit dem ewigen Gianluigi Buffon, der zum 966. Mal im Tor steht.

Football Soccer - Belgium v Italy - EURO 2016 - Group E - Stade de Lyon, Lyon, France - 13/6/16 Italy's Graziano Pelle celebrates after scoring their second goal with Gianluigi Buffon and team mates REUTERS/Jason Cairnduff Livepic

(Bild: Reuters/Jason Cairnduff)

Es ist ein Viertelfinal mit der Besetzung eines Endspiels: Weltmeister Deutschland trifft an diesem Samstag (21 Uhr) auf Angstgegner Italien. Es ist eine Squadra Azzurra, der vor dem Turnier nichts und inzwischen alles zugetraut wird. Und das mit einer Veteranenabwehr mit dem ewigen Gianluigi Buffon, der zum 966. Mal im Tor steht.

Zum Beispiel am Abend vor dem Spiel gegen Spanien. Da sass Gianluigi Buffon neben seinem Trainer Antonio Conte, mit dem er einst noch zusammengespielt hat. Conte sprach viel, Buffon wenig, er strich sich über die Hände und schaute mit diesem feierlichen Ernst, den er seinem Beruf widmet. Doch was er dann sagte, bestätigte mal wieder: Was für ein Typ!

» Die Schreckensbilanz der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien

38 ist er jetzt, der drittälteste EM-Akteur hinter seinen bereits ausgeschiedenen Torwartkollegen Gabor Kiraly (Ungarn) und Shay Given (Irland). Als Spieler ist der viermalige Welttorwart des Jahres kaum schlechter geworden, auch wenn Franz Beckenbauer ihn vor Jahren mal als «Rentner» bezeichnete – ein Satz, der Buffon verletzte. Als Persönlichkeit ist er immer besser geworden. Seine präzisen Einschätzungen kann man quasi als Regierungserklärungen dieser Mannschaft nehmen.

«Seine Aura ist einzigartig», sagt Conte. «Ein Heiliger», befand Giorgio Chiellini nach dem Spanien-Spiel. «Eine Inspiration», nennt ihn Andrea Barzagli, selbst schon 35. Und Leonardo Bonucci versandte gestern Nachmittag einen Tweet, in dem er forderte: «Lasst uns noch ein ‚B‘ hinzufügen und die ‚BBBC‘ sein.»

Die vier Senatoren aus Turin

Buffon und die «BBC»: im Turnier sind sie ebenso wie die Deutschen noch ohne Gegentor, bei der Niederlage im bedeutungslosen letzten Gruppenspiel gegen Irland setzten sie aus. Die vier «Senatoren» von Juventus Turin sind die grössten Stars der Mannschaft, gegen Spanien besorgte Chiellini sogar den wichtigen Führungstreffer. Dass eine Abwehrreihe ein italienisches Team überstrahlt, steht an sich natürlich im Einklang mit der Tradition. «Inglorious Bastards», hat sie die Presse genannt.



epa05394956 Goalkeeper Gianluigi Buffon of Italy (L) and Giorgio Chiellini of Italy react after the UEFA EURO 2016 round of 16 match between Italy and Spain at Stade de France in St. Denis, France, 27 June 2016. ....(RESTRICTIONS APPLY: For editorial news reporting purposes only. Not used for commercial or marketing purposes without prior written approval of UEFA. Images must appear as still images and must not emulate match action video footage. Photographs published in online publications (whether via the Internet or otherwise) shall have an interval of at least 20 seconds between the posting.) EPA/GEORGI LICOVSKI EDITORIAL USE ONLY

Inglorious Bastards: So bezeichnen die italienischen Medien die Abwehr der Squadra Azzurra, hier mit Gianluigi Buffon (38) und Giorgio Chiellini (31). (Bild: Keystone/GEORGI LICOVSKI)

«Wir haben so viel zusammen durchlebt, dass wir ein besonderes Feeling zwischen uns haben», sagt Buffon, der die Defensive nicht nur wegen ihres Alters als «Traditionsabteilung» bezeichnet. Die in Italien seit einigen Jahren wieder populäre Dreierkette galt ja auch mal als antiquiertes System. Doch bei diesem Turnier stellt es alle Gegner bisher vor eine unüberwindliche Hürde. «Wir sind damit nicht klargekommen» räumte zuletzt der Spanier Juanfran ein.

Buffon: «Unsere Stärke ist es, unsere Grenzen zu kennen»

In Contes 3-5-2 gibt es immer genug Spieler zum Pressing im Mittelfeld und immer genug zum Verteidigen in der Abwehr. Die Schlüsselrolle nimmt dabei der passsichere Bonucci ein, der bisweilen regelrecht als Libero agiert. «Er ist unser defensiver Spielmacher», sagt Buffon. «Er versteht es sehr gut, das Spiel zu eröffnen und hat begnadete Füsse, die es ihm erlauben, viel zu riskieren». Bonucci, nicht umsonst gegen Spanien zum Mann des Spiels ernannt, variiert dabei. Mal spielt er Steilpässe, mal schaltet er sich als zusätzlicher Mittelfeldspieler ein.

Kompakt: Italiens Siege über Deutschland 2006 und 2012 sowie die Tore gegen Belgien an der Euro 2016:

«Unsere Stärke ist es, unsere Grenzen zu kennen», das sagte Buffon schon zu Turnierbeginn. Er und seine Abwehr geniessen die Underdogrolle, den Kampf gegen die fussballerische Wahrscheinlichkeit, die grossen Klassiker des Länderfussballs. «Die Schönheit des Sports, erst recht mit 38 Jahren, ist es solche Spiele zu leben, als wären sie das Wichtigste». Nach unzähligen Partien – 965 Pflichtspiele, darunter 160 für die Nationalelf – habe er zwar Routine entwickelt. «Aber trotzdem werde ich bei wichtigen Spielen immer noch mit erhöhter Temperatur gemessen.»

«Jungen Spielern passiert es oft, dass sie sich selbst bemitleiden»

Nach der Trennung von seiner langjährigen Model-Frau Alena Šeredová lebt Buffon in zweiter Beziehung mit der Fernsehmoderatorin Ilaria D’Amico, 42, zusammen und wurde voriges Jahr zum dritten Mal Vater. Mit seiner fussballerischen Liebe Juventus ging er wie Chiellini nach dem Zwangsabstieg im Zuge des Manipulationsskandals in die Zweite Liga. Es gibt wenig im Leben, das er noch nicht gesehen hätte, und so bekommen seine Pressekonferenzen immer mehr den Charakter von Audienzen.



Football Soccer - EURO 2016 - Italy News Conference - Decines-Charpieu, France 12/6/16 Italy's coach Gianluigi Buffon attends a news conference REUTERS/UEFA/Handout via REUTERS NO SALES. NO ARCHIVES. THIS IMAGE HAS BEEN SUPPLIED BY A THIRD PARTY. IT IS DISTRIBUTED, EXACTLY AS RECEIVED BY REUTERS, AS A SERVICE TO CLIENTS.

Mit der Aura eines langen, erfolgreichen Fussballerlebens: Der 38-jährige Gianluigi Buffon an der Euro 2016. (Bild: Reuters)

«Gigi, wie hast du das noch mal gemacht mit Morata?», wurde er vor dem Spanien-Spiel etwa zu seinem Juventus-Kollegen gefragt. Ja ja, sagte Buffon. «Zu Saisonbeginn machte er eine schwere Phase durch, ich habe ihm geraten, sich zum Weinen im Zimmer einzuschliessen. Jungen Spielern passiert es ja oft, dass sie bei Schwierigkeiten in Depressionen verfallen, dann suchen sie nach Alibis und bemitleiden sich selbst. Ich sagte ihm, hör‘ auf damit und sei wieder ein Fussballer, der Spiele entscheidet.»

Álvaro Morata stand dann im EM-Achtelfinal für Spanien auf dem Platz. In den EM-Spielen zuvor hatte er dreimal getroffen. Gegen Buffon und den Juve-Abwehrriegel sah er keinen Stich. Nach einer Stunde wurde er ausgewechselt.

Der alte Mythos von der Turniermannschaft

Wundersamer als bei dieser EM war selbst Italien noch nie. Der alte Mythos von der Turniermannschaft ging ja immer so, dass die vierfachen Weltmeister sich mit spekulativem Defensivfussball irgendwie durchmogelten. Das war oft deshalb besonders ärgerlich, weil Italien immer grosse Fussballer hatte. Riva, Rivera, Boninsegna. Rossi, Conte, Scirea. Baggio, Maldini, Baresi. Pirlo, Totti, Del Piero.

Über den aktuellen Jahrgang hingegen sagt Giorgio Chiellini: «Wir sind keine Phänomene, und werden es auch nie sein.» Dafür spielen diese Nicht-Phänomene aber einen Fussball, wie ihn die Alten selten hinbekamen.

Trainer Antonio Conte: ein messianischer Anführer

Die Arbeit von Antonio Conte («Sinnlos zu verbergen, dass wir in punkto Talent eine schwierige Phase durchleben») erhebt dieses Paradox schon jetzt in mythische Dimensionen. Italiens Werdegang bei diesem Turnier ist ein Monument an die Trainerkunst, und in gewisser Weise spielt die Squadra an diesem Punkt dann doch mit unfairen Mitteln.



Antonio Conte, Euro 2016

Messianischer Anführer aus Apulien: Antonio Conte coacht die italienische Nationalmannschaft mit jeder Faser seines Körpers. (Bild: Reuters)

Wo Länderauswahlen sonst überwiegend von verdienten Altmeistern mit lange zurückliegender oder überschaubarer Klubkarriere gecoacht werden, ist der 46-jährige Apulier ein herausragender Vertreter des aktuellen Trainer-Trends. Einer wie Simeone, Klopp, Guardiola. Ein messianischer Anführer. Einer, der von der Motivation bis zur Taktik, von der PR bis zur Physis alles im Blick hat, und seiner Mannschaft eine Erzählung gibt. Einer, der nicht umsonst eine abgestürzte Juventus wiederbelebte (2011-2014) und nach diesem Turnier bei Chelsea anfängt.

So kann man sich täuschen

Die Vorschau der TagesWoche und unseres Autors Florian Haupt zu den Italienern vor Beginn des Turniers:
«Italien schickt das vielleicht talentfreieste Team seit Menschengedenken»

«Italien ist mehr als Catenaccio» – diesem feierlichen Satz Contes konnte zumindest an diesem Abend keiner widersprechen. Wo die Azzurri im Gruppenspiel gegen Schweden (1:0) noch für das Match mit den wenigsten Torabschlüssen seit 1980 verantwortlich zeigten, schlugen sie gegen ein dekadentes Spanien einen Rhythmus an, den der Titelverteidiger nur selten mitgehen konnte.

Hätte Italien wirklich noch die grossen Angriffstalente früherer Generation, es hätte angesichts zahlreicher Grosschancen ein Schützenfest feiern können. Aber diese Sturmdiven von einst würden dafür nicht so arbeiten wie die Eders und Pellès bei diesem Turnier, und diese Gefolgschaft ist für den hochtourigen Conte-Fussball fast noch wichtiger als das individuelle Talent.

Italien ist mehr Italien denn je

Belgien, der Geheimfavorit: klar geschlagen. Spanien, der Titelverteidiger: auch. Deutschland, der Weltmeister? «Der Platz ist der Ort, an dem Urteil gesprochen wird», sagte Buffon nach dem Spanien-Spiel. Ein Satz, den im italienischen Quartier in Montpéllier alle Spieler wiederholen, wenn sie mit dem üblichen Triumphalismus der deutschen Boulevardpresse konfrontiert werden.

Natürlich ist auch gegen Deutschland wieder mit einer strategischen Meisterleistung zu rechnen. An diesem Punkt ist Italien mehr Italien denn je. Der Vorteil der Mannschaft von Joachim Löw ist allerdings, dass sie vielseitiger ist als die Spanier. Der Nachteil ist – wie zuletzt vor vier Jahren im Halbfinale – die Geschichte.

Italiens Bilanz gegen Deutschland *

Weltmeisterschaften

1962 Vorrunde Italien–Deutschland 0:0
1970 Halbfinal Italien–Deutschland 4:3 n.V.
1978 Zwischenrunde Italien–Deutschland 0:0
1982 Final Italien–Deutschland 3:1
2006 Halbfinal Italien–Deutschland 2:0 n.V.

Europameisterschaften

1988 Vorrunde Italien–Deutschland 1:1
1996 Vorrunde Italien–Deutschland 0:0
2012 Halbfinal Italien–Deutschland 2:1
* in Wettbewerbsspielen

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