Die serbischen Adler wollen gegen die Schweiz einen weiteren Erfolg landen

Das Schweizer Team muss sich am Freitag in ihrem zweiten WM-Gruppenspiel (20 Uhr) vorsehen: Mit ihrer Mischung aus Erfahrung und jugendlichem Eifer ist die serbische Nationalmannschaft für böse Überraschungen gut.

Sergej Milinkovic-Savic, Lichtgestalt des serbischen Fussballs, hebt ab.

Mit der Feinabstimmung eines Gemischs kennt Mladen Krstajic sich aus. Als sich die aktive Karriere des kantigen Verteidigers und einstigen Kapitäns von Schalke 04 vor zehn Jahren ihrem Ende zuneigte, kaufte sich der Serbe eine Schnapsbrennerei. Er verpasste ihr den eleganten Namen «Hubert» und begann aus Äpfeln, Birnen, Pflaumen und Aprikosen Rakia – einen auf dem Balkan äusserst populären Obstbrand – zu destillieren.

Ums Herausdestillieren einer harmonischen Mixtur geht es auch bei der Zusammenstellung einer Fussballmannschaft: ein paar Häuptlinge und dazu viele Indianer, junge Wilde und alte Haudegen. Techniker, Leichtathleten, Kopfballungeheuer, Egoisten und Wasserträger – all das muss rein in den Kessel, wenn am Ende der richtige Cocktail mit dem gewissen Etwas für die wichtigen Siege herauskommen soll.

Keine WM ohne die «Golden Boys»

Slavoljub Muslin, Krstajics Vorgänger im Amt des serbischen Nationaltrainers, hatte mit seiner Selektion zwar die Qualifikation zur WM als Gruppenerster souverän abgeschlossen, aber dabei stur auf die Hinzunahme der Cocktailkirschen – die jungen U19-Europameister von 2013 und der U20-Weltmeister von 2015 – verzichtet. Keine WM ohne die «Golden Boys», entschied der Verband und übergab die Aufgabe im Oktober des vergangenen Jahres an den 44-jährigen einstigen Bundesligaprofi.

Beim 1:0 im ersten Gruppenspiel gegen Costa Rica, Mladen Krstajics erstem Pflichtspiel als Nationaltrainer, zeigte sich: Der Destillierer versteht etwas von seinem Handwerk. Jugend und Erfahrung harmonierten bei den «Orlovi» (den Adlern) so gut, dass die «Ticos» zwischen der fünften und der neunzigsten Minute zu keinem echten Torschuss kamen.

In der Abwehr machte der langjährige Branislav Ivanovic sein 104. Länderspiel und überholte damit Dejan Stankovic als Rekordnationalspieler. Mehr als 200 Ligaspiele und ein Durchschnittsalter von über 30 Jahren wiesen auch die anderen beiden Verteidiger Dusko Tosic und Aleksandar Kolarov, Torschütze des 1:0, aus. Das vierte Mitglied des Defensivbundes, der erst 20-jährige Nikola Milenkovic vom AC Florenz, bestritt sein Wettkampfdebüt für Serbien und sah dabei komplett unaufgeregt aus.

Der Auftritt gegen Costa Rica zeigte, dass die «Adler» in Russland einen grösseren Eindruck hinterlassen könnten.

Dass man sich im defensiven Mittelfeld um die Routiniers Nemanja Matic und Luka Milivojevic auf eine ruhige und organisierte Vorstellung verlassen kann, war erwartbar. Umso grösser war da schon die Spannung um den ersten WM-Auftritt von Sergej Milinkovic-Savic (auch «SMS» genannt) von Lazio Rom. Der 23-Jährige gilt als Serbiens grösstes Talent seit Jahrzehnten und wird gerade heftigst von Real Madrid umworben.

Und tatsächlich entwickelte «SMS» in Partnerschaft mit Dusan Tadic auf der rechten Seite eine Kreativität im Offensivspiel, wie sie bei den Serben lange nicht mehr zu sehen war. Von der serbischen Jugend zeigte nur Aleksandar Mitrovic von Newcastle United Nerven. Der ebenfalls erst 23-Jährige verstolperte gegen Costa Rica gleich dreimal freistehend klare Torchancen, wurde von seinem Trainer danach aber in Schutz genommen.

«Wir wissen alle um seine aussergewöhnlichen Fähigkeiten», erklärte Krstajic. «Er hatte kein Glück, wird aber schon bald zeigen, welch wichtiges Zahnrad er in unserer Maschine ist.» Mitrovic ist zwar in der Premier League in der Vergangenheit etwas verlorengegangen und momentan an den FC Fulham ausgeliehen, aber im Nationaltrikot hat er in jetzt schon 35 Länderspielen 13 Tore erzielt.

«One Team, One Dream – Serbia!» Unter diesem Motto war Serbien nach Russland geflogen, und der Auftritt gegen Costa Rica zeigte, dass die «Adler» auf dem Boden ihrer russischen Freunde tatsächlich einen grösseren Eindruck hinterlassen könnten. Krstajics Destillat wirkt ausbalanciert.

Als eine der wichtigsten Grundlagen des Erfolgs nennen Krstajic und die erfahrenen Spieler seiner Mannschaft immer wieder «die gute Atmosphäre im Team». «Es gibt zum ersten Mal seit langer Zeit keine Clans oder Cliquen mehr», so der Auswahltrainer. «Und die haben unseren Teamgeist in den vergangenen 25 Jahren eigentlich immer geschwächt.»

Serben wollen kein minderwertiges Produkt

Doch in der sportverrückten Nation, die nach 2010 erst zum zweiten Mal als wirklich unabhängiger Staat bei einer WM antritt, verlangen die Fans viel mehr als Solidität. Die jugoslawische Vergangenheit ist reich an sportlichen Höhepunkten. Jetzt will der Hunger nach Erfolgen im Fussball gestillt werden. Als die U20-Auswahl 2015 bei der WM in Neuseeland im Endspiel Brasilien mit 2:1 nach Verlängerung besiegt hatte, wurde sie in  Belgrad von 50’000 Menschen empfangen.

Dennoch war die Zuversicht hinsichtlich der WM in Russland nicht besonders gross. Aus Angst vor leeren Strassen hatte der Verband sogar eine bereits fest eingeplante Busparade zur Verabschiedung der Nationalelf wieder abgesagt. Die Fussballstimmung hat in Serbien ebenso wenig Kontinuität wie die heimische Liga.

Veljko Paunovic, der die U20-Auswahl 2015 als Trainer zum WM-Titel geführt hatte und mittlerweile als verantwortlicher Coach von Chicago Fire in den USA arbeitet, sieht den Grund im geringen Interesse der Serben für ihren eigenen Klubfussball. «Spielt nicht Partizan oder Roter Stern, sind die meisten Stadien während der regulären Ligaspiele zu 90 Prozent leer», erklärte Paunovic kürzlich. «Die Serben wollen Spitzenfussball sehen und kein minderwertiges Produkt.»

Deshalb spiele im Land zwar jeder Fussball, aber wirklich populär seien nur die Übertragungen aus den europäischen Spitzenligen im TV.  «Serbien» , so Paunovic, «hat viele junge Talente, aber sie werden normalerweise zu früh verkauft und ziehen ins Ausland. Die Klubs sind selbst auf ein paar Tausend Euro angewiesen. Könnten sie die Spieler nur ein paar Jahre länger in Serbien halten, würden wir in Europa längst eine ganz andere Rolle spielen.»

Mit SMS zum Erfolg

Die lichte Zukunft des serbischen Fussballs ist vielleicht gar nicht so weit weg. Und die Hoffnung darauf hat einen Namen: Sergej Milinkovic-Savic, eben «SMS». Über ihn – das zeigte das Spiel gegen Costa Rica deutlich – entfaltet sich das kreative Spiel der Serben in der 4-2-3-1-Formation. Der 23-Jährige wird bereits mit dem Franzosen Paul Pogba verglichen. Gut möglich, dass er schon dieses WM-Turnier zu seiner Coming-out-Party in Sachen «das nächste grosse Ding im Mittelfeld» machen könnte.

Mit Pogba hat der Mittelfeld-Motor von Lazio so einiges gemein. Beide zeichnet trotz ihrer Grösse eine überraschende Geschwindigkeit und Beweglichkeit aus. Pogba wie Milinkovic-Savic lassen ihre Gegenspieler mit kraftvollen Antritten stehen und sind mit einer überragenden Schusstechnik und einem durchschlagenden Kopfballspiel gesegnet.

Im Angriff findet Milinkovic-Savic dann meist seinen gleichaltrigen Vollstrecker Aleksandar Mitrovic. Für die anderen U19-Europameister und U20-Weltmeister kommt die WM wohl doch zu früh. Weder Torwart Predrag Rajkovic (Maccabi Tel Aviv), noch Benficas Andrija Zivkovic oder Valencias Nemanja Maksimovic werden in Russland grosse Einsatzzeiten erhalten. Ihre Zeit bricht wohl an, wenn nach der WM zahlreiche Routiniers ihre Nationalmannschaftskarriere beenden werden.

Dass dies allerdings noch ein paar Tage auf sich warten lassen könnte, dafür spricht die Statistik der serbischen und vorher der jugoslawischen Nationalmannschaft. 1930, 1954 und 1998 wurde das erste Spiel gewonnen und auch die nächste Runde erreicht. Nur 1950 schied man trotz eines Auftakterfolges aus.

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