Die Three Lions und die Sache mit dem Ball

Trainer Roy Hodgson hat den englischen Fussball an einen neuen Tiefpunkt geführt. Fähige Spieler hat er zwar zur Genüge, doch es fehlen funktionierende Strukturen im Spiel mit dem Ball.

Trainer Roy Hodgson: Buhmann der ganzen Nation.

(Bild: Keystone/PETER KLAUNZER)

Trainer Roy Hodgson hat den englischen Fussball an einen neuen Tiefpunkt geführt. Fähige Spieler hat er zwar zur Genüge, doch es fehlen funktionierende Strukturen im Spiel mit dem Ball.

Es ist, seit nunmehr 50 Jahren, der «impossible job»: Als England-Trainer muss man entweder wahnsinnig sein oder es zwangsläufig werden, glaubt man auf der Insel. Und das nicht ganz grundlos.

Montagabend zur Geisterstunde an der Côte d’Azur hat es auch den sonst recht sanftmütigen Roy Hodgson erwischt. «Sie brauchen keine Frage zu stellen, steht alles hier!», raunzte er den BBC-Reporter in der ersten Reihe des Pressesaals mit einem ziemlich irren Lächeln im Gesicht an. Dabei stach der 68-Jährige mit dem Zeigefinger auf das arme Stück Papier ein wie ein Zugpassagier, der einen unverschämten Falschsitzer mit dem Reservierungsbeleg vertreiben muss. 

In seiner überraschend schnell nach dem EM-Aus verfassten Rücktrittsrede wurde der siegreiche Gegner Island mit keinem Wort erwähnt. Hodgson sprach blumig über die «fantastische Reise der vergangenen vier Jahre», über die gelungene Verjüngung der Mannschaft und von seinen ebenfalls «fantastischen» Spielern, die – aufgepasst, ihr bösen englischen Boulevard-Schreiber – sehr wohl «mit Liebe für ihr Land spielen». Es sei schade, dass seine Zeit im Amt so enden müsse, fügte er hinzu. Jedoch: «These things happen.»

Überbewertet, überbezahlt, aber eigentlich gut genug

Diese Sachen passieren, ja. Man kann im Fussball gegen den schwächeren Gegner verlieren und  frühzeitig aus dem Turnier fliegen. Und England kann das, wie man weiss, besonders gut: Die Männer mit den drei Löwen auf der Brust haben neben viel Hype um ihre echten und vermeintlichen Stars auch jederzeit gravierende Goaliefehler und grassierende Panik in allen Mannschaftsteilen im Repertoire. Gerade mal sechs K.O.-Spiele hat man seit dem WM-Gewinn auf eigenem Boden 1966 in grossen Turnieren gewinnen können.

Aber ein Aus gegen Island, die Mannschaft, die so heisst wie eine englische Discount-Supermarktkette (Iceland) und aus einem Land mit 330’000 Einwohnern kommt? Hodgsons locker formuliertes «these things happen» wurde dieser historischen Schmach nicht gerecht. Nizza, das war allen Beteiligten klar, löste am Montag Belo Horizonte als Chiffre des absoluten fussballerischen Tiefpunkts ab. In der brasilianischen Stadt hatte England 1950 bei der WM 0:1 gegen die USA verloren; Zeitungsredakteure hatten damals zunächst angenommen, dass bei der Übertragung des Ergebnisses eine Eins vor der englischen Null abhanden gekommen sei.

Allein Kapitän Wayne Rooney («es tut sehr weh, das ist eine peinliche Niederlage») und der unglückselige Keeper Joe Hart, der mit seinem Fehler beim zweiten Tor der Isländer der Sensation auf klassisch-englische Weise den Weg bereitet hatte, waren couragiert genug, zu der nationalen «Erniedrigung» (Times) Stellung zu nehmen. Die Mannschaft müsse damit leben, zukünftig mit «einer der schwärzesten Stunden des Fussballs» in Verbindung gebracht zu werden, sagte Hart. «Ich muss mich für diese Leistung entschuldigen, sie war nicht gut genug», sagte der 29-Jährige schwer betroffen.

Englands Spieler sind tendenziell überbewertet, in finanzieller Hinsicht sowieso. Russland (1:1), die Slowakei (0:0) oder das nicht mehr als solide, in einem urbritischen 4-4-2 verteidigende Island hätte dieses junge, durchaus talentierte Team trotzdem schlagen müssen. Die individuelle Qualität war dafür allemal ausreichend.

Konfuser Aktionismus

Hodgson hatte Mut zum Angriff und zu Formationswechseln, er hatte jede Menge Spielentscheider im Kader, auf deren Improvisationskünste bis zu einem gewissen Grad Verlass war. Ihm fehlten nur, wie den meisten seiner Vorgänger, funktionierende, krisenresistente Strukturen im Spiel mit dem Ball – eine übergeordnete Idee zum Beispiel, und die dazugehörigen Methoden, um diese umzusetzen. Ob er seinen Schützlingen keine dezidierten Angriffsübungen im Training zumuten wollte oder von solch neumodischem Quatsch sowieso nichts hält, bleibt unklar. Mit dem Satz «man gewinnt nichts mit Systemen, man gewinnt mit Fussballern» hatte er sich Ende Mai offenbar ein wenig selbst entlarvt.

Wirklich kohärenten, planvollen Fussball hatte sein Nationalteam nur bei der EM 2012 gezeigt, als man vornherein auf Ballbesitz verzichtete und aus einer tiefen Abwehr kontern konnte. Die beiden Turniere danach gerieten dank konfusem Aktionismus zum Debakel.

Letztlich hat seine trübe Ära alle Zweifler bestätigt, die Hodgson als Trainer ohne zählbare Erfolge in England als ungeeignet eingeschätzt hatten. Höchstwahrscheinlich wird nun Gareth Southgate, der kreuzbrave U21-Coach, das Team übernehmen, Begeisterungsstürme löst diese Personalie auf der derzeit schon schlimm genug gepeinigten Insel nicht gerade aus. Zum Glück fängt immerhin in nur sechs Wochen wieder die Premier League an.

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