Die Tränen der «kleinen Erbse»

Der Leih- und Ersatzspieler Javier «Chicharito» Hernández schiesst Real Madrid in den Halbfinal der Champions League. Nach seinem Tor gegen den Stadtrivalen Athletico Madrid brechen beim Mexikaner die emotionalen Dämme – und sein Trainer wendet sich mit martialischen Worten an die Konkurrenz.

Real Madrid's Chicharito celebrates after scoring the game's only goal during the second leg quarterfinal Champions League soccer match between Real Madrid and Atletico Madrid at Santiago Bernabeu stadium in Madrid, Spain, Wednesday, April 22, 2015. (AP Photo/Andres Kudacki) (Bild: Keystone/ANDRES KUDACKI)

Der Leih- und Ersatzspieler Javier «Chicharito» Hernández schiesst Real Madrid in den Halbfinal der Champions League. Nach seinem Tor gegen den Stadtrivalen Athletico Madrid brechen beim Mexikaner die emotionalen Dämme – und sein Trainer wendet sich mit martialischen Worten an die Konkurrenz.

Javier «Chicharito» Hernández kommt von weit her, aus Guadalajara, Mexiko. Die Menschen in der zweitgrössten Stadt des Landes gelten als besonders religiös und als besonders dramatisch, sie leben das Leben als Daueroper der Gefühle.

Was das konkret bedeuten kann, erfuhr die übrige Welt an einem pathosgeladenen Abend im Estadio Santiago Bernabeu, an dem Javier Hernández, der Leih- und Ersatzspieler, die Glaubensgemeinde von Real Madrid so beseelte, dass die Sportzeitung «As» am nächsten Tag für ihre Schlagzeile nur ein Wort brauchte: Chicharito.

Die «kleine Erbse», die so heisst, weil sein Vater auch Fussballer war und wegen seiner grünen Augen «chicharo» genannt wurde, die Erbse also, verjagte mit ihrem Tor in der 88. Minute einen bösen Fluch, der so hartnäckig erschien, dass von vornherein alle Rituale der Geisterbeschwörung angebracht schienen. Die Fans geleiteten den Mannschaftsbus in tausendfachem Spalier ins Stadion, die Spieler hoben immer wieder die Arme, um die Fans aufzuputschen.

Ein Tor, für das der Schütze nur noch ein Kopfschütteln übrig hat

Es ging ja nicht nur um den Einzug ins Champions-League-Halbfinale, es ging auch darum, die unerklärliche Serie von sieben sieglosen Spielen gegen den ärmeren Stadtnachbarn Atlético zu beenden. Und als es dann vollbracht war, als nach 178 aufreibenden Viertelfinal-Minuten endlich ein Tor fiel, da warf sich Chicharito auf den Boden und schüttelte den Kopf.



epa04716772 Real Madrid's Chicharito celebrates scoring the 1-0 winning goal during the UEFA Champions League quarter final second leg soccer match between Real Madrid and Atletico Madrid at Santiago Bernabeu stadium, in Madrid, Spain, 22 April 2015. EPA/KIKO HUESCA

Der Moment, der Chicharito später die Tränen in die Augen treiben sollte. (Bild: Keystone/KIKO HUESCA)

Da sass er auf dem Boden und schüttelte immer noch den Kopf, nachdem die verliebten Kollegen irgendwann von ihm abgelassen hatten. Da streckte er die Hände zum Himmel und zog eine Riesenshow ab, als er sich wenig später mit Krämpfen wieder auf den Boden setzte.

Er wollte einfach nicht vom Platz, und als er es dann doch tat, da riefen 80’000 Menschen so laut seinen Namen, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Auf der Ersatzbank verbarg er seinen Kopf im Schoss von Ersatztorwart Keylor Navas. Der Held des Abends, bandagiertes Bein, ein Meer von Tränen – wie episch kann der Fussball sein.

Mehr Zuneigung der Fans als Zuchtathlet Gareth Bale

Die Prozession vom Mittwoch war der Höhepunkt einer Leidens- und Wiederauferstehungsgeschichte, die Madrid schon länger beschäftigte, wenn auch zuvor eher als Nebenstrang im königlichen Gesamtschauspiel. «Ich habe geweint», sagte Hernández in einem Interview kurz vor Ostern, aber damals meinte er Tränen der Hilflosigkeit, weil er auch bei Real Madrid wie schon zuvor bei seinem Stammverein Manchester United nur zwischen Bank und Tribüne changierte.

Kurz nach Ostern wurde er dann mal wieder ins Team rotiert. Er schoss ein Tor, er spielte gut und er kam gut an. Weil die Fans im Bernabeu einen wie ihn, einen kleinen, listigen Strafraumstürmer mit offenem Herzen eigentlich lieber mögen als den Zuchtathleten Gareth Bale oder den kühlen Ästheten Karim Benzema.

Und weil man sie einfach mögen muss, diese kleine Erbse, die in Guadalajara vom Vater und dem Grossvater, ebenfalls Profi, von kleinauf dazu erzogen wurde, Fussballer zu sein, und auch in widrigen Zeiten solche Sätze sagen kann: «Ich bin mit dem Fussball verheiratet, und ich werde ihm treu sein».



Real Madrid's Chicharito, left, runs celebrating after scoring the game's only goal past Atletico goalkeeper Jan Oblak, right, during the second leg quarterfinal Champions League soccer match between Real Madrid and Atletico Madrid at Santiago Bernabeu stadium in Madrid, Spain, Wednesday, April 22, 2015. (AP Photo/Andres Kudacki)

Der Moment des Triumphes: Chicharito dreht jubilierend ab. (Bild: Keystone/ANDRES KUDACKI)

Trotzdem: Dass die Menschen noch weit in die «magische Nacht» (Sergio Ramos) hinein seinen Namen riefen, hatte schon etwas Irreales. «Chicharito, Chicharito»: Es war wie in einem dieser Filme, in denen das hässliche Entlein zur Prinzessin des Abschlussballs wird. Das Märchen von der kleinen Erbse.

Ganz nach dem Geschmack von Präsident Florentino Pérez, der seinen Verein so gern als Produzent von Mythen, Legenden und ewigem Glück inszeniert. Der Bauunternehmer ist verspottet und kritisiert worden für die Ausleihe von Chicharito, zumal zufälligerweise parallel in Mexiko ein paar interessante Bauaufträge ausgeschrieben wurden.

Jetzt sieht das schon anders aus. Pérez, lange nur mit Umsatzzahlen erfolgreich, hat einen guten Run.

Sergio Ramos: «Ich mag Trainer mit Eiern, und Ancelotti ist so einer.»

Zu tun hat das vor allem mit seiner Trainerwahl. An der Seitenlinie steht Carlo Ancelotti, den manche trotz der mit vier Titeln erfolgreichsten Saison der Klubgeschichte spätestens nach der Blamage im Achtelfinalrückspiel gegen Schalke (3:4) am liebsten vom Hof gejagt hätten.

Als es nun wirklich darauf ankam, coachte Ancelotti ein perfektes Spiel – auch weil ihm die vielen Ausfälle (Bale, Benzema, Modric, Marcelo) den Raum zum Coachen gaben. Seine gelungene Massnahme, Innenverteidiger Ramos im Mittelfeld aufzustellen, war riskant. Vor anderthalb Jahren in Barcelona war dasselbe Revirement mal so gründlich schief gegangen, dass es Ancelottis Kritiker bis heute gegen ihn verwenden.



epa04716808 Real Madrid's head coach Carlo Ancelotti (2R) and his players celebrate after winning Atletico Madrid in their Champions League quarters finals second leg match played at Santiago Bernabeu stadium in Madrid, Spain, on 22 April 2015. EPA/KIKO HUESCA

Carlo Ancelotti inmitten der feiernden Spieler – die kritischen Stimmen verstummen vorerst (Bild: Keystone/KIKO HUESCA)

«Ich dachte, sie killen mich wieder», sagte Ancelotti, «aber ich lebe noch». Und Ramos ergänzte: «Der ganze Verdienst gebührt Ancelotti. Ich mag Trainer mit Eiern, und er ist so einer.»

Wie Ancelottis Real kontrolliert angriff, ohne hinten etwas zuzulassen oder sich über Gebühr zu verausgaben, das erinnerte sehr an seine beste AC Milan. Zwar gelang das Tor erst, als beim Gegner Arda Turan mit Gelb-Rot vom Platz flog. Aber so kleinlich die zweite Verwarnung durch Schiedsrichter Brych gewesen sein mochte, so verdient war Atléticos Ausscheiden.

Ancelottis martialische Sprache in Richtung der Konkurrenz

Trainer Diego Simeone tappte in die Falle des eigenen Underdog-Mythos und spekulierte trotz der Ausfälle beim Gegner von Anfang an auf ein weiteres 0:0. Er unterstrich seine Absichten, als er just in der Phase, in der seine Elf erstmals so etwas wie Gleichgewicht herzustellen schien, seine fussballerische Lichtgestalt Antoine Griezmann zugunsten des finsteren Aggressivspielers Raúl García auswechselte.

Der Neue begann gleich zu treten und zu provozieren und schuf damit erst das Ambiente, in dem Brych kurz darauf gegen Arda überreagierte. Für einmal hatte sich Atlético selbst ausgetrickst.

Real dagegen hat das Schlimmste überstanden: die Aussicht auf die historische Schmach von acht sieglosen Derbys in einer Saison. «Was uns nicht umbringt, macht uns stärker», verkündete Ancelotti. Wenn die entscheidenden Schlachten geschlagen werden, wird selbst bei ihm mal die Sprache martialisch.

Die Konkurrenz ist umso mehr gewarnt: «Wir leben», so der Trainer. «Und wenn wir leben, sind wir sehr gefährlich.»

» Zu den Bewegtbildern des Spiels auf srf.ch



Real Madrid's Chicharito celebrates at the end of the second leg quarterfinal Champions League soccer match between Real Madrid and Atletico Madrid at Santiago Bernabeu stadium in Madrid, Spain, Wednesday, April 22, 2015. Chicharito scored the match's only goal. (AP Photo/Andres Kudacki)

Den Oberschenkel einbandagiert, Zeige- und Mittelfinger zum Zeichen des Siegers geformt: die Feier des Mannes der Stunde. (Bild: Keystone/ANDRES KUDACKI)

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