Die beiden Basel fördern seit 2004 bereits Siebenjährige mit sportlicher Begabung. Ein Schritt in eine grosse Karriere – oder einfach in ein bewegtes Leben.
Nicolas steht Kopf. Kaum fünf Minuten ist es her, seit ihm der «Baby Freeze» gezeigt wurde. Länger braucht der Primarschüler nicht, um die Breakdance-Pose nachzumachen. Die anderen Kinder seiner Gruppe mögen noch wackeln. Am Ende der Stunde aber haben alle die Bewegung intus.
Überraschen kann die schnelle Auffassungsgabe nicht. Die Kinder in Nicolas’ Gruppe sind in der Sporthalle Lausen, weil sie ein besonderes Talent haben: Sie sind motorisch begabt und nehmen darum während zwei Jahren am Förderprogramm Talent Eye teil. An diesem Nachmittag steht ein Schnupperkurs in Hip-Hop-Tanzen an.
Diese Probelektionen sind ein wichtiger Bestandteil von Talent Eye. Denn hier wird nicht spezifisch eine bestimmte Sportart trainiert. Stattdessen geht es darum, die koordinativen Fähigkeiten zu üben und herauszufinden, welcher Sport für welches Kind geeignet ist. Darum lernen die Teilnehmer während zwei Jahren rund zwanzig verschiedene Sportarten kennen.
«Meist ist es sehr vom Zufall abhängig, welche Sportart ein Kind wählt», stellt Lukas Zahner fest. Der Privatdozent am Institut für Sport und Sportwissenschaften der Universität Basel hat Talent Eye 2004 in Zusammenarbeit mit den Sportämtern der beiden Basel ins Leben gerufen. Sein Ziel ist nicht zuletzt, diesen Zufall einzuschränken. Es sollen nicht mehr Freunde, Familie oder das Angebot darüber entscheiden, welchen Sport ein Kind für sich aussucht, sondern das Talent.
Für viele Clubs in der Region sind die Schnuppertrainings willkommene Gelegenheit, um auf den eigenen Sport aufmerksam zu machen. Auch für den Leichtathletikverband beider Basel (LABB). Wie viele Kinder via Talent Eye zur Leichtathletik finden, weiss Dominik Jauch zwar nicht. Aber für den LABB-Nachwuchsverantwortlichen ist klar: «Für unseren Sport ist es wichtig, dass wir vertreten sind. Es ist die erste Förderstufe, die wir unterstützen.»
Wer ist wo besonders begabt?
Nun funktioniert Talent Eye natürlich nicht nach dem chinesischen Modell, in dem Kinder praktisch ohne Mitsprache jenen Sportarten zugeteilt werden, für die sie am geeignetsten scheinen. Aber, sagt Zahner, die Trainer würden den Eltern bei der Auswahl durchaus Hinweise geben: «Wo ist das Kind aufgeblüht, in welchem Bereich ist es überdurchschnittlich talentiert?»
Nach zwei Jahren, so die Hoffnung, haben die Kinder einen Sport gefunden, der ihnen Spass macht – und erst noch ihren Begabungen entspricht. Damit wird auch die Chance erhöht, dass es die Teilnehmer dereinst bis ganz an die Spitze schaffen könnten. Die Wahrscheinlichkeit bleibe allerdings auch so gering, rechnet Zahner vor: «Von 100 000 Kindern, die mit einem Sport beginnen, feiern am Ende drei internationale Erfolge.»
Diese realistische Einschätzung bedeutet allerdings nicht, dass nicht trotzdem alle Voraussetzungen geschaffen werden sollten, um künftige Erfolge zu ermöglichen. So stand am Anfang des Projekts für Zahner denn auch eine Feststellung: «Ab der Pubertät werden Sportler in der Schweiz relativ gut gefördert. Aber darunter ist Brachland.» Und das, obwohl Studien belegten, «dass das erste Lebensjahrzehnt für eine Sportlerkarriere prägend ist».
Thomas Beugger spricht in diesem Zusammenhang vom «goldenen Lernalter». Der Leiter des Sportamts Baselland ist vom Nutzen von Talent Eye überzeugt: «Es ist der Start einer Sportlerlaufbahn, die vielleicht einmal in eine Profikarriere mündet.» Und wenn daraus ein Olympiasieger hervorgehen würde, «dann wäre das ein schöner Nebeneffekt. Aber in erster Linie geht es darum, dass die Kinder von einem abwechslungsreichen Training profitieren können.»
Ohne übermässigen Ehrgeiz
Die Olympischen Spiele sind denn auch noch weit weg an diesem Nachmittag in Lausen. Während unten eine Hip-Hop-Choreografie einstudiert wird, sitzen oben Eltern und schauen mehr auf ihre Smartphones als auf den tanzenden Nachwuchs. Von übermässigem Ehrgeiz ist nichts zu spüren.
Pasquale Amato ist selbst in Italien als Junior Strassenrennen gefahren und sagt: «Sport ist auch immer ein Opfer.» Ob seine Tochter Zaira dieses auch auf sich nehmen soll, wird sie selbst entscheiden: «Bislang hat sie ihre Sportart noch nicht gefunden.» Da geht es ihr wie Annika. Deren Mutter Nicole Moser weiss aber, dass Talent Eye bei der Auswahl durchaus helfen kann. Annikas ältere Schwester hat hier Volleyball für sich entdeckt.
Den Unterschied zu anderen Trainings in Sportvereinen sieht Nicole Moser darin, dass hier auch mal der Durchhaltewille gefordert und gefördert werde: «Es gibt Aufgaben, die die Kinder weniger gern machen. Aber der Ansporn, etwas ebenso gut zu können wie der Rest der Gruppe, ist gross.»
Tatsächlich ist der interne Vergleich fester Bestandteil von Talent Eye. Dabei gehe es nicht darum, den Konkurrenzkampf anzuheizen, sagt Lukas Zahner: «Aber wir müssen die Kinder auf Wettkampfsituationen vorbereiten.» Einmal im Monat gibt es darum einen internen Wettstreit. Es gibt Kinder, die mit solchen Situationen besser umgehen – und solche, die überhaupt nicht der Wettkampftyp sind. «Das ist okay», sagt Zahner, «viele haben Freude an Bewegung, aber nicht am Wettbewerb. Es geht darum, herauszufinden, welcher Typ jemand ist.»
Schwierig wird es, wenn der Ehrgeiz der Eltern grösser ist als jener der Sprösslinge. «Eltern haben einen enormen Einfluss auf eine Sportlerkarriere», sagt Zahner, «nicht nur positiv, sondern auch negativ.» Auch deswegen führen die Talent-Eye-Trainer immer wieder Elterngespräche. Kinder hätten einen inneren Antrieb, sagt Zahner. «Diese intrinsische Motivation muss reichen.» Und er warnt: «Frühe sportliche Erfolge sind selten mit späteren Triumphen verknüpft.»
Talent Eye gibt es in den beiden Basel seit sieben Jahren. Für ein abschliessendes Urteil über die Wirksamkeit des Programms ist es allerdings noch zu früh. Eine Vergleichsstudie hat immerhin ergeben, dass jene Kinder, die bei Talent Eye dabei waren, bei sportmotorischen Tests besser abschnitten. Zudem gebe es ehemalige Teilnehmer, die in der Leichtathletik gute Resultate erzielen, erzählt Zahner. «Aber es braucht 10 bis 15 Jahre spezifisches Training in einer Sportart, bis die höchste Leistung erreicht wird. Von daher wäre es blauäugig, diese Resultate auf Talent Eye zurückzuführen.»
15 Schweizer Rekorde
Trotzdem – Celine Albisser ist überzeugt, dass ihr Talent Eye etwas gebracht hat. «Vor allem koordinativ. Ich kann neue Dinge schnell aufnehmen und lernen.» Sie war 2004 bei den Ersten, die gefördert wurden. Seither hat die heute 15-jährige Leichtathletin 15 Schweizer Rekorde bei den Juniorinnen aufgestellt. Vor allem die professionellen Einheiten sind ihr von Talent Eye noch in Erinnerung: «Die Trainer hatten echt etwas drauf.»
Wenn es trotzdem nicht an Olympische Spiele reicht, gewonnen haben die Kinder auch so: Eine Studie hat festgestellt, dass Teilnehmer von Talent Eye punkto Knochengesundheit im obersten Segment aller Kinder der Region Basel rangieren. Für Lukas Zahner steht darum fest: «Das Programm bringt nicht nur etwas für eine Sportkarriere – sondern für das ganze Leben.»
Die Ausschreibung für das Jahr 2012 finden Sie auf der Rückseite dieses Artikels.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.02.12