Solche Triumphe wie in New York gelingen Stan Wawrinka zwar nicht so konstant wie seinerzeit Roger Federer. Doch seine sporadischen Nadelstiche machen ihn für seine Gegner völlig unberechenbar.
Wer hätte diese Bilder, diese Szenen, diese neue Tennis-Weltordnung vor ein paar Jahren für möglich gehalten? Und doch spielte sich in diesen zurückliegenden Septembertagen alles genau so ab:
Der geniale Maestro Roger Federer, wegen einer bitteren Verletzung schon ins frühzeitige Saison-Aus verbannt, schickte mal drollige, mal idyllische Fotos aus einem Maisfeld oder aus der schönen Schweizer Bergwelt in die Weiten des digitalen Universums, an seine Abermillionen Fans rund um den Planeten.
Und während er, der 17-malige Grand-Slam-Champion, alles andere als verdrossen oder verkniffen, seinen vorübergehenden Ruhestand genoss, holte der einstmals ewige Zweite, der andere Schweizer, der früher sehr diskrete Federer-Weggefährte Stan Wawrinka, zum nächsten grossen Schlag aus.
Die Olympischen Spiele hatte Wawrinka wegen einer Rückenverletzung und allgemeinem Erschöpfungszustand abgesagt, nach New York war er ohne grosse Hoffnungen und Erwartungen angereist – und doch war er wieder einmal die Wundertüte im Wanderzirkus.
«Ich weiss selbst gerade nicht, was passiert», sagte Wawrinka, als er im letzten US-Open-Match dieses Jahrgangs 2016 den Weltranglistenersten und Titelverteidiger Novak Djokovic mit 6:7 (1:7), 6:4, 7:5 und 6:3 in drei Stunden und 55 Minuten niedergerungen hatte und zum König von New York aufgestiegen war.
Im Kreise der Grössten angekommen
Es war ein Triumph auf die ganz harte Tour, am Ende von zwei Tenniswochen in drückender Schwüle. Und am Ende abenteuerlicher, spannungsgeladener Grand-Slam-Shows mit Wawrinka. Selbst einen Matchball in Runde drei (gegen den Briten Dan Evans) musste der Mann abwehren, der sich immer mehr zum Spezialisten für gewisse ausgewählte Stunden entwickelt.
Seit 2013 hat Wawrinka nun nämlich elf Endspiele sowohl bei den Grand Slams als auch im regulären Tourbetrieb ausnahmslos gewonnen. Ein Grund mehr, ihn in jene kleine Elitegruppe einzusortieren, die ganz vorn in diesem Sport noch einmal auf einem anderen Leistungsniveau als der Rest der Welt spielt.
«Stan gehört zu den Grossen, kein Zweifel», sagte Djokovic, der geschlagene Frontmann. Nach dem French Open 2015 verlor der Serbe schon das zweite Endspiel gegen den zupackenden Eidgenossen, der erfolgreich den Bewährungsdruck abschüttelte.
Vor dem Match, in einer letzten Besprechung mit Trainer Magnus Norman, sei er in Tränen ausgebrochen, sagte Wawrinka: «Ich spürte ganz einfach, wie sehr ich dieses Match gewinnen wollte.» Doch im Showdown mit Djokovic hielt er stahlhart Kurs, selbst nach dem unglücklich verlorenen Auftaktsatz in der Tiebreak-Lotterie.
Bei Wawrinka weiss man nie, woran man ist. Das macht ihn so gefährlich für seine Gegner.
Und so waren auch die verblüffenden, veränderten Machtverhältnisse daheim in der Schweiz noch einmal in aller Deutlichkeit festgeschrieben: Denn Wawrinka, nicht Federer, ist neuerdings für die Grand-Slam-Triumphe zuständig. Der Maestro, inzwischen Mitte dreissig, gewann 2012 in Wimbledon den letzten Major-Wettbewerb. Noch einmal konnte er damals Braveheart Murray niederringen. Gegen Djokovic aber, den neuen Gipfelbewohner, musste Federer danach wiederholt die Segel streichen. 2015 war er zwar der Einzige, der dem Serben regelmässig Widerstand leistete, aber die Endspiele in Wimbledon und New York verlor der vierfache Familienvater.
Wawrinka ist kein Fall für die lange Strecke, kein Konstanzwunder, kein Ausdauerfighter auf höchstem Niveau – er setzt seine Nadelstiche sporadisch, fast willkürlich. Bei ihm weiss man nie, woran man ist. Das macht ihn so gefährlich für seine Gegner. Und so schwer einschätzbar für die Experten und Analysten dieses Sports.
«Erste Runde raus oder Titel. Bei Stan ist nichts unmöglich, absolut nichts», sagt Ex-Superstar John McEnroe, «aber wenn er an seinem Limit spielt, ist er praktisch nicht zu schlagen.» Nicht mal von einem wie Djokovic, dem Marathonmann, der das Beharren an der Spitze zu einer Art Wissenschaft erhoben hat.
Novak Djokovic muss sich vom Schweizer geschlagen geben: «Das Endspiel war schon weit mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.» (Bild: Keystone/Justin Lane)
Freilich: Im Moment kämpft Djokovic erstmals seit Jahren mit einem störrischen Körper, der überlastet scheint und gegen die Tortur auf der brutalen Tennistour rebelliert. In New York hatte er Riesenglück, überhaupt ins Endspiel gekommen zu sein. Schliesslich zwickte es ihn an allen Ecken und Enden, an der Schulter, an den Handgelenken, an den Füssen.
Sein Glück? Seine Gegner waren noch kaputter als er bis zum Finale, einer trat gar nicht gegen ihn an, zwei weitere Profis gaben im Matchverlauf auf. «Das Endspiel», sagte Djokovic, «war schon weit mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.»
Der logische, der verdiente Sieger war ein anderer: Stan Wawrinka. Der sensible Kraftprotz, der auf dem Weg zu diesem Titel schuften musste wie ein Berserker. In der Open-Air-Sauna von New York schaltete er im Zielspurt Top-Konkurrenten wie Argentiniens Comebacker Juan Martin del Potro oder Japans Superstar Kei Nishikori aus, bevor dann auch Djokovic seine Power zu spüren bekam. Die Power, aber auch die Hartnäckigkeit und Widerstandskraft Wawrinkas, der bei den Big Points jene Courage und jenen Mut zeigt, der für Tennis-Champions steht.
Fehlt noch Wimbledon
«Es war eine Qual, dieses Spiel, das ganze Turnier. Ich habe eigentlich mehr aus meinem Körper geholt, als möglich war», sagte der Sieger, der sich nicht nur 3,5 Millionen Dollar Preisgeld, sondern auch schon einen Platz beim Saisonfinale der acht Besten in London im November sicherte. Auch dort wird er allein die Schweizer Farben vertreten, Federer steigt erst im Januar wieder ins Wettkampfgeschehen ein.
In den letzten drei Spielzeiten hat er nun jedes Mal einen Grand-Slam-Titel geholt, erst in Australien 2014, dann in Paris 2015, nun in New York. Bleibt noch Wimbledon – das einzig ungelöste Tennis-Rätsel für Stan, the Man? «Ich habe dort noch nie mein bestes Tennis gespielt», sagte Wawrinka, «mehr als das Viertelfinale war noch nicht drin.»
Doch wer wollte ausschliessen, dass auch dort, im Garten Eden des Tennis, noch mal alles ganz anders kommt für Wawrinka.