Ein episches Spiel für Übergeschnappte

Sportzeitungen gab es am Tag nach Barcelonas 6:1-Sieg bereits um 9 Uhr keine mehr zu kaufen. Rückblick auf eine ekstatische Nacht, in der ein Mann ohne Torinstinkt das Wunder schaffte, ein Brasilianer die beste Leistung seiner Karriere abrief, und in der vielleicht eine ganze Menge Kinder gezeugt wurden.

Football Soccer - Barcelona v Paris St Germain - UEFA Champions League Round of 16 Second Leg - The Nou Camp, Barcelona, Spain - 8/3/17 Barcelona's Neymar celebrates scoring a goal Reuters / Sergio Perez Livepic

(Bild: Reuters/Sergio Perez)

Sportzeitungen gab es am Tag nach Barcelonas 6:1-Sieg bereits um 9 Uhr keine mehr zu kaufen. Rückblick auf eine ekstatische Nacht, in der ein Mann ohne Torinstinkt das Wunder schaffte, ein Brasilianer die beste Leistung seiner Karriere abrief, und in der vielleicht eine ganze Menge Kinder gezeugt wurden.

Der Tag nach dem Wunder. Flimmernde Bilder im Kopf, Tinnitus in den Ohren, der Lärm von 100 000, die schon oft 100 000 waren, aber noch nie so laut. Um 9 Uhr morgens sind am Kiosk die Sportzeitungen ausverkauft.

Und wer weiss, vielleicht steigt im Gesundheitsamt von Barcelona ja wirklich gerade eine Strategiesitzung. «Stellt in den nächsten neun Monaten viele Krankenschwestern ein», hatte Verteidiger Gerard Piqué schliesslich empfohlen: «Denn heute Nacht wird viel Liebe gemacht.»

Ein Fussballwunder also, einer von der Sorte, wie sie nur alle Jubeljahre passieren. Um nicht zu sagen: eines wie noch nie. 1:5 war im Europapokal schon mal aufgeholt worden, auch 2:6. Aber noch nie ein 0:4, und warum ein 1:5 und ein 2:6 eben kein 0:4 sind, war nach der 62. Minute dieses Champions-League-Achtelfinals deutlich zu spüren gewesen. Da verkürzte Edinson Cavani für Paris St. Germain auf 1:3, und der FC Barcelona musste plötzlich auf sechs Tore kommen. Unmöglich.



epa05837559 FC Barcelona's Brazilian striker Neymar jubilates winning the UEFA Champions League second leg round of 16 match between FC Barcelona and Paris Saint-Germain at Camp Nou stadium in Barcelona, Catalonia, Spain, 08 March 2017. EPA/QUIQUE GARCIA

(Bild: Keystone/MANU FERNANDEZ)


«Das beste Spiel meines Lebens»

Neymar

Die ersten Zuschauer packten ihre Sachen, und als Ivan Rakitic ausgewechselt wurde, erhielt er stellvertretend eine dankbare Ovation für den mehr als anständigen Versuch einer Aufholjagd. Barça hatte das Heldentum gestreift, aber zu mehr schien es nicht zu reichen, und mehr konnte auch niemand verlangen. Es lief die 84. Spielminute, und es fehlten noch drei Tore.

Unmöglich? Es war die Stunde von Neymar. In der 88. Minute zirkelte er einen Freistoss in den Winkel und genauso entscheidend war seine Reaktion: Er peitschte Mitspieler und Publikum auf. Hier war einer, der wirklich noch daran glaubte.

Im Nachhinein haben das natürlich immer alle, doch nicht jeder Mitspieler und schon gar nicht die Zuschauer haben die Wiederauferstehung so verinnerlicht wie der statistisch meistgefoulte Fussballer des Kontinents; einer der provoziert und provoziert wird; der mit 25 Jahren schon das grosse Brasilien in Desaster (WM) und Erlösung (Olympia) anführte; dessen Transferschachteleien den eigenen Verein vor Gericht und in Verruf brachten.



epa05837543 FC Barcelona's coach Luis Enrique (L) nad defender Sergi Roberto jubilate the victory after the UEFA Champions League second leg round of 16 match between FC Barcelona and Paris Saint-Germain at Camp Nou stadium in Barcelona, Catalonia, Spain, 08 March 2017. EPA/ALEJANDRO GARCIA

(Bild: Keystone/MANU FERNANDEZ)


«Er verlor die Torgefahr schon in der Jugend. Ich sagte von ihm, dass er noch nicht mal unter dem Regenbogen durch trifft.»

Trainer Luis Enrique (links) über Sergi Roberto (rechts), Torschütze zum 6:1. 

Dieser Neymar war jetzt on fire, er spielte «das beste Spiel meines Lebens». Als Barcelona in der ersten Minute der Nachspielzeit einen Elfmeter geschenkt bekam, war er es und nicht wie noch 40 Minuten vorher Lionel Messi, der sich den Ball nahm. Und als in der 95. Minute die letzte Angriffswelle anstand, da «sagte ich zu Sergi, dass er in den Strafraum ziehen und den Ball suchen soll: dass er auf ihn gehen wird.»

Sergi, Sergi Roberto, ebenfalls 25, aber aus Reus in Katalonien, ist keiner, der einem Weltstar widersprechen würde. Sergi, klassisches Mittelfeldprodukt der Barça-Schule, liess sich auch über weite Strecken der Saison klaglos als Rechtsverteidiger missbrauchen und wurde derart positionsentfremdet beim 0:4 im Hinspiel besonders gedemütigt. Sergi zog in den Strafraum, Sergi suchte den Ball und Sergi kam an den Ball. Wie? «Ich weiss es nicht mal», sagte er später.



Barcelona's head coach Luis Enrique celebrates at the end of the Champions League round of 16, second leg soccer match between FC Barcelona and Paris Saint Germain at the Camp Nou stadium in Barcelona, Spain, Wednesday March 8, 2017. Barcelona won the match 6-1 (6-5 on aggregate). (AP Photo/Manu Fernandez)

(Bild: Keystone/MANU FERNANDEZ)


«Der grosse Sieg des Glaubens»

Trainer Luis Enrique

Er wird es bis ans Ende seiner Tage erzählt bekommen, gern und immer wieder: Sergi flog in den Ball und versenkte ihn volley mit der Spitze des ausgetreckten Fusses. In der letzten Minute, mit dem letzten Zeh, der «grosse Sieg des Glaubens» (Trainer Luis Enrique), durch Sergi Roberto, «der die Torgefahr schon in der Jugend verlor, von dem ich immer sage, der trifft noch nicht mal unter dem Regenbogen durch» (nochmal Luis Enrique).

Ohne solche Ironien wohl keine Fussball-Wunder. Unter den weiteren Zutaten: die  szenische Angst der Pariser, die vor dem entfesselten Publikum anfangs zu defensiv spielten, dann zu viele Chancen vergaben und am Ende, in der unerklärlichen Schlussphase, nur noch «in ein Loch schauten», wie Mittelfeldspieler Adrien Rabiot stammelte, als die Franzosen von ihrem Begräbnis zum Mannschaftsbus mit der fast schon tragischen Aufschrift «Revôns plus grand» (Lasst uns grösser träumen) gingen.



Barcelona's Neymar, right, celebrates with Barcelona's Sergio Busquets at the end of the Champions League round of 16, second leg soccer match between FC Barcelona and Paris Saint Germain at the Camp Nou stadium in Barcelona, Spain, Wednesday March 8, 2017. Barcelona won the match 6-1 (6-5 on aggregate). (AP Photo/Manu Fernandez)

(Bild: Keystone/MANU FERNANDEZ)


«Keiner wird diese Nacht vergessen.»

Trainer Luis Enrique

Ausserdem: die deutschen Schiedsrichter um Denis Aytekin, die alle strittigen Szenen zugunsten der Gastgeber auslegten, Paris zwei ziemlich eindeutige Elfmeter vorenthielten und Barcelona zwei ziemlich dubiose gaben, den zweiten zum 5:1 nach einer verzweifelten Schwalbe von Luis Suárez. Auch das gehörte zu dieser Nacht: dass Barça mehr durch seine Wettkampfhärte überzeugte als durch die eigentliche Hausmarke, den Fussball. Abseitsverdächtiges Stochertor, Eigentor, Elfmeter, Freistoss, Elfmeter – und Sergi Roberto. So lautete die Trefferfolge. «Wir haben unseren idealen Spielstil nicht gefunden», räumte Luis Enrique ein. Und trotzdem oder gerade deshalb den letzten Baustein im Mythos der Generation Messi gesetzt.

«Dieser Sport ist etwas für Übergeschnappte», resümierte Barças zum Saisonende scheidender Trainer, nachdem das sonst wohl kühlste Fussball-Publikum des Kontinents das riesige Camp Nou mit seinen Jubelsprüngen buchstäblich erzittern lassen hatte: «Keiner wird diese Nacht vergessen».

Natürlich nicht. Und in neun Monaten werden dann auch die neuen Erdenbürger davon erfahren, in aller epischen Breite.

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