Ottmar Hitzfeld hat als Trainer mit Borussia Dortmund 1997 und Bayern München 2001 die Champions League gewonnen. Vor dem Londoner Final ordnet der Schweizer Nationaltrainer die beiden Clubs ein und erklärt, warum er das Spiel in einem TV-Studio München in schauen wird.
Herr Hitzfeld, können Sie die Namen Dortmund und Bayern überhaupt noch hören?
Ottmar Hitzfeld: Ja, natürlich. Ich hatte zu beiden Vereinen eine Beziehung, die sehr intensiv war. Es waren zwei tolle Lebensabschnitte, Millionen Fans hat man glücklich gemacht. Ich kann absolut nachvollziehen, was in München und Dortmund los ist.
Welcher Titel setzte grössere Emotionen frei? Dortmund 1997 oder Bayern 2001?
Jeder Titel ist mit Emotionen verbunden. Man erlebt die Tage davor intensiver. Ich musste mich selbst bremsen und versuchen, nüchtern zu bleiben, kühlen Kopf zu bewahren. Die Gefühle waren ähnlich. Dortmund stand zum ersten Mal im Finale, da ist man Aussenseiter, kann Geschichte schreiben. Juventus war zwei Jahre lang ungeschlagen, da konnte man viel mehr gewinnen als bei den Bayern. Trotzdem setzt man sich als Trainer unter Druck. Ein Finale zu verlieren ist das Schlimmste. Bei Bayern war der Stress höher, zumal 1999 gegen Manchester in der Nachspielzeit alles versemmelt wurde. Wir galten gegen Valencia als Favorit. Ich wollte nicht in die Geschichte von Bayern eingehen als der Trainer, der zwei Endspiele verloren hat. Umso grösser war die Befreiung.
Es prallen in London zwei Kulturen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.
Die Borussia hat eine längere Tradition als Bayern, sie war zuerst deutscher Meister. Die Bedeutung des Fussballs im Ruhrgebiet ist höher, speziell Dortmund ist Religion. Die Menschen zelebrieren schon den Weg ins Stadion, sie haben daheim schwarz-gelbe Altäre aufgestellt, beten zum Fussballgott. Bayern ist Rekordmeister, Erfolge gehören zur Tagesordnung. Es wird nie so ausgelassen gefeiert wie in Dortmund. Dort sind eine Million Leute auf der Strasse, in München 20’000.
«Ein bisschen mehr halte ich zu den Bayern, das hat mit Shaqiri zu tun.»
Zu wem halten Sie?
Ich versuche, neutral zu sein. Aber ein bisschen mehr halte ich zu den Bayern, das hat mit Shaqiri zu tun, den ich ja als Schweizer Teamchef trainiere. Aus der Mannschaft von 2001 sind noch Lahm, Schweinsteiger, van Buyten und Pizarro dabei. Ich habe auch Ribéry zu den Bayern geholt. Da sind die Beziehungen stärker, bei Dortmund ist aus meiner Zeit nur Michael Zorc übrig geblieben. Uli Hoeness würde ich den Titel sehr vergönnen, damit er in der schwierigsten Phase seines Lebens ein wenig Trost findet.
1997 sahen Sie fix und fertig aus und sind zurückgetreten. War das an der Grenze zur Gesundheitsgefährdung?
Nein, ich war wie immer unter Strom. Sechs Jahre Dortmund sind eine lange Zeit, die Erwartungshaltung ist gestiegen, der Klub hatte sich verschuldet. Ich habe nach dem Finale spontan aufgehört, besass ein Angebot von Real Madrid. Ich verbrachte zwei schlaflose Nächte und dachte mir: Bis ich ein paar Sätze Spanisch kann, bin ich schon wieder entlassen. Deshalb ging ich nicht zu Real. Bei Dortmund war meine Zeit abgelaufen, ich hatte keine Kraft mehr. Also nahm ich das Angebot, dort ein Jahr lang den Sportdirektor zu machen, an.
Bei welchem Verein ist die Gefahr grösser, an Burnout zu erkranken?
Bei Bayern. Ich war sechs Jahre am Stück dort. Das ist wie 20 Jahre bei einem anderen Bundesligaklub. 2004 war ich derart ausgelaugt, dass ich das Angebot, deutscher Bundestrainer zu werden, abgelehnt habe.
«Für den deutschen Fussball ist egal, wer gewinnt. Für Bayern wäre eine Niederlage fatal.»
Wäre ein Sieg der Bayern für den deutschen Fussball besser? Im Falle einer Niederlage gäbe es Negativschlagzeilen, die Saison wäre dann wieder verkorkst.
Für den deutschen Fussball ist egal, wer gewinnt. Für Bayern wäre eine Niederlage fatal.
Hat die Steueraffäre von Hoeness Auswirkungen?
Nein. Unruhe im Umfeld bringt die Spieler noch mehr dazu, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Das hält die Sinne wach. Gefährlicher ist die Normalität.
Spanien dominierte den Fussball in den vergangenen Jahren. Ist eine Wachablöse erfolgt?
Ich glaube schon. 4:0 gegen Juventus, 7:0 gegen Barcelona sind eindeutige Zeichen der Bayern. Sie werden für längere Zeit den Vereinsfussball mit dominieren. Man weiss aber nicht, wie etwa Real Madrid oder Manchester United reagieren. Vielleicht nehmen sie Geld in die Hand.
Die Bayern kicken sehr attraktiv, das war nicht immer so. Sie sind fast schon sympathisch. Und dann warnt Uli Hoeness vor drohender Langweile und Zweiklassengesellschaft in der Bundesliga. Er meinte, Dortmund und eben Bayern müssten sich gemeinsam etwas überlegen. Wenig später nehmen Sie Dortmund für 37 Millionen Euro Mario Götze weg. Ist das nicht eher unsympathisch?
Nein. Das ist freie Marktwirtschaft, und Bayern hat sich das hart erarbeitet. Man verstärkt sich permanent, weil man Druck hat. Dortmund soll sich nicht beklagen, es gibt eben festgeschriebene Ablösesummen. Und sie haben das Gleiche mit Gladbach gemacht, als sie Marco Reus holten. Der wirtschaftlich Stärkere bedient sich bei den Schwächeren.
Wo sind die Schwächen von Bayern und Dortmund?
Schwächen muss man mit der Lupe suchen. Dortmund bekommt zu viele Gegentore.
Es werden also winzige Details entscheiden?
Ja. Im taktischen Bereich sind beide Mannschaften ausgereizt, beide pressen, beide schalten schnell um, beide können den Ball halten. Letztlich entscheidet die Tagesform der Topspieler. Und die Qualität der Bank. Da hat Bayern Vorteile, da kann man einige ins kalte Wasser werfen.
«Ich bin gespannt, was Pep Guardiola bei den Bayern macht. Jupp Heynckes ist schwer zu toppen.»
Dortmund und Bayern gelten derzeit als Inbegriffe des modernen Fussballs. Gibt es noch Weiterentwicklungen?
Ja, der Fussball kann immer besser werden, jeder Spieler kann besser werden. Verteidiger sind schon halbe Spielmacher. Der nächste Schritt ist, dass sie Dreiviertelspielmacher werden. Noch mehr Positionswechsel sind möglich. Die individuelle Klasse wird höher werden, obwohl die Fussballer teilweise schon Artisten sind. Auch die Trainer werden neue Wege finden müssen. Ich bin gespannt, was Pep Guardiola bei den Bayern macht. Jupp Heynckes ist schwer zu toppen.
Xherdan Shaqiri hat seinen Anteil am Weg der Bayern in den Final als Ergänzungsspieler. Österreich wird in London mit David Alaba vertreten sein. Was halten Sie von ihm?
Ein fantastischer Spieler. Technisch perfekt, er hat die Ruhe am Ball. Er ist psychisch belastbar. In so jungen Jahren Stammkraft bei den Bayern zu sein, Hut ab. Er kann auf verschiedenen Positionen eingesetzt werden. Alaba ist ein Traum für jeden Trainer.
Österreich und die Schweiz veranstalteten 2008 gemeinsam die Europameisterschaft. Die Schweiz ist 14. der Weltrangliste, Österreich nur 71. Woran liegt das? Wie stufen Sie Österreich ein?
Besser, die Liste ist zwiespältig. Marcel Koller hat tolle Arbeit geleistet, die Mannschaft hat sich entwickelt, sie wirkt konkreter. Aber natürlich muss man sich für ein Turnier qualifizieren, daran wird man gemessen.
«Die Schweiz war immer schon bei der Trainerausbildung und im Jugendbereich vorbildhaft.»
Warum ist die Schweiz besser?
Die Schweiz war immer schon bei der Trainerausbildung und im Jugendbereich gut aufgestellt und vorbildhaft. Über Österreich weiss ich zu wenig.
Muss das Ziel Österreichs und vielleicht auch der Schweiz sein, als Ausbildungsland zu punkten? Man kann zwar keine Teams, aber doch ein oder zwei Spieler in Endspielen stellen.
Ja. Man soll die Hoffnung aber nie verlieren. Auch Griechenland wurde Europameister.
Sie fahren nicht zum Finale nach London. Warum?
Ich bin im Sky-Studio in München, der Rummel wäre mir im Stadion zu gross. Ich will das Spiel in Ruhe geniessen.
Es ist sicher toll, Schweizer Nationaltrainer zu sein. Verspüren Sie nicht mehr das Verlangen nach der täglichen Arbeit bei einem Spitzenclub?
Nie mehr. Ein Nationalteam zu betreuen ist interessant – und für die Gesundheit besser.
Das Interview wurde in Riehen im Rahmen eines Round-Table-Gesprächs geführt und ist im Original im Wiener «Der Standard» erschienen.