Nach seinem Sieg gegen Andy Murray zieht Stan Wawrinka ins Halbfinale des ATP-Turniers in London ein. Dort trifft er auf Roger Federer.
Ab und zu schwenkten die Kameras früh an diesem Freitagabend in der O2-Arena auf die Spielerbox von Andy Murray. Dort, wo eigentlich seine Trainertruppe, seine Fitnesscoaches, sein Management und auch seine Frau während einer WM-Partie ihren Beobachtungsposten haben.
Doch in dieser entscheidenden WM-Nacht, im wegweisenden Zweikampf mit Stan Wawrinka, war Murrays Loge direkt am Centre Court verwaist, menschenleer. Es war ein merkwürdiges Bild. Umso mehr, da Murray selbst noch in einer BBC-Kolumne erklärt hatte, wie wichtig es ihm sei, immer mal wieder einfach Blickkontakt zu seiner Mannschaft aufnehmen zu können.
Und wieder ist es ein Schweizer, der Murray nach Hause schickt.
Es dauerte eine Weile, bis die aufmerksamen Späher der TV-Weltregie die Murray-Entourage dann weit oben unterm Hallendach entdeckt hatten, so weit vom Spielfeld entfernt, dass sie gefühlt ein Fernglas für den sicheren Blick gebraucht hätten. Warum das alles, warum dieses scheinbare Versteckspiel? «Manchmal, wenn die eigenen Leute zu nah an dir dran sind, kann das auch störend sein», sagte Murray.
Es war eine komplizierte Antwort, eine undurchsichtige Erklärung in einem Moment, da für ihn wieder einmal alles vorbei war. Murray, der Lokalmatador, hat zwar die ewige britische Titeldürre in Wimbledon beendet, mit seinem historischen Coup vor zweieinhalb Jahren. Doch das grosse, abschliessende Tennis-Spektakel im Osten der britischen Kapitale, bleibt ein grosses Rätsel – für Murray selbst, aber auch für seine Fans.
Und für die, die Murrays Auftritte professionell verfolgen, so wie auch der ehemalige britische Spitzenmann Tim Henman. «Es scheint, als fehle stets das letzte Puzzleteil für ihn», sagte Henman nach Murrays 6:7 (4:7), 4:6-Niederlage gegen Wawrinka.
Unvergessene Demütigung
Am Ende war es mit Wawrinka wieder ein Schweizer, der Murray und den Gastgebern das Spiel und die Hoffnungen auf einen heimischen Coup verdarb – vor zwölf Monaten, in der Branche schwerlich vergessen, hatte Roger Federer dem Schotten eine herbe 6:0, 6:1-Abfuhr versetzt, es war die grösste Demütigung auf einer solch grossen Bühne, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Murray könnte auch in diesem Jahr noch einmal symbolisch gegen Federer verlieren, nämlich den zweiten Platz 2 in der Weltrangliste. Federer müsste dafür das Turnier gewinnen.
Andy Murray lässt seinem Frust freien Lauf. Er ist gegen Stan Wawrinka im ATP-Turnier ausgeschieden. (Bild: Tony O’Brien)
Murray, unzweifelhaft in ein Interessen- und Termindilemma verstrickt, kann sich nun auf das Davis Cup-Finale konzentrieren. In der O2-Arena aber spielt weiter die Schweiz eine gewichtige, wenn nicht gar überragende Rolle. Schon wieder sind die beiden Frontmänner von Swiss Tennis unter den letzten Vier der Weltmeisterschaft gelandet, genau wie schon 2013 und 2014.
Vor zwei Jahren verloren Wawrinka (gegen Djokovic) und Federer (gegen Nadal) ihre Halbfinals in separaten Matches, 2014 traten sie – wie auch an diesem Samstagabend – gegeneinander an. «Ganz egal, wo und in welchem Stadium eines Turniers: Gegen Roger zu spielen, ist immer etwas ganz Besonderes», sagte Wawrinka, der sich nach unerklärlich schwachem Turnierauftakt gegen Nadal noch so weit steigerte, dass er nun weiter vom ersten Pokalcoup in der O2-Arena träumen durfte.
Federer verzeiht keine Fehler
Gegen Federer wird er sich allerdings nicht die Nonchalance leisten können, die er im Match gegen Murray wieder und wieder zeigte. Im ersten Durchgang servierte der Romand beim 5:3-Vorsprung zum verlockend nahen 1:0-Satzvorsprung, nur um sich nach einem mittleren Black-Out plötzlich in einem Tiebreak-Krimi zu sehen.
In dieser Glückslotterie lag Murray sogar 4:2 vorn, verlor dann aber ebenso fahrig wie zuvor Wawrinka die nächsten fünf Punkte zum 4:7. «Wenn du diese Fehler machst, bei einem Turnier wie diesem hier, dann hast du auch den Sieg nicht verdient», sagte Murray hinterher. Wawrinka schien dann gänzlich auf dem Weg ins Halbfinale zu sein, doch bei einer 5:2-Führung im zweiten Satz verlor er abermals den Faden. Murray kam auf 4:5 heran, hatte sogar zwei Breakbälle zum 5:5, doch Wawrinka hangelte sich dann durchs Ziel. Und zum alten, neuen Schweizer Duell mit Federer.
Dieser liegt im Kopf-zu-Kopf-Vergleich 17:3 vorn, doch die letzten beiden Matches hatten unterschiedliche Sieger: Wawrinka bei den French Open, Federer bei den US Open. Bei der WM 2014 ging es so turbulent wie nie zwischen dem Duo zu, Federer siegte 8:6 im Tiebreak des dritten Satzes – nach Abwehr von vier Matchbällen. Es war auch der Abend, an dem Federers Frau Mirka den denkwürdigen Zwischenruf in Wawrinkas Richtung erschallen liess, das Abkanzeln als «Heulsuse».