Eine 5000:1-Quote für die Sensation der Sensationen

Als Claudio Ranieri zum neuen Trainer von Leicester City ernannt wurde, musste die Medienabteilung die Medien und Fans bitten: «Vertrauen Sie uns!» Mit dem Titelgewinn hat der Italiener Fassungslosigkeit ausgelöst – die Anhänger sind überfordert von der neuen Realität.

ZUM MOEGLICHEN ERSTMALIGEN GEWINN DER MEISTERSCHAFT IN DER ENGLISCHEN PREMIER LEAGUE 2015/16 DURCH DEN LEICESTER CITY FC STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Leicester City's Jamie Vardy celebrates his goal during the English Premier League soccer match between Newcastle United and Leicester City at St James' Park, Newcastle, England, Saturday, Nov. 21, 2015. (KEYSTONE/AP Photo/Scott Heppell)

(Bild: Keystone/SCOTT HEPPELL)

Als Claudio Ranieri zum neuen Trainer von Leicester City ernannt wurde, musste die Medienabteilung die Medien und Fans bitten: «Vertrauen Sie uns!» Mit dem Titelgewinn hat der Italiener Fassungslosigkeit ausgelöst – die Anhänger sind überfordert von der neuen Realität.

Leicester, die Provinzmetropole der Midlands, eine 300’000-Menschen-Stadt zum Dran-Vorbeifahren auf dem Weg von London nach Birmingham oder umgekehrt, war am Montagabend schnell viel zu klein für das grösste aller Fussballwunder. Das Zentrum musste wegen akuter Überfüllung von der Polizei abgeriegelt werden.

Die Anhänger der Foxes, der Füchse, zogen so zum King-Power-Stadion weiter, um im Böllergewitter den Gewinn der englischen Meisterschaft zu bewältigen, kopfschüttelnd, fassungslos, überfordert von einer Realität, die über viele Monate ins vollends Fantastische abgedriftet ist.

» Die Geschichte eines unglaublichen Meistertitels – nacherzählt von «The Guardian»

Die englischen Buchmacher hatten vor der Saison die Erfolgschancen des Beinahe-Absteigers aus der Spielzeit 2014/15 mit 5000:1 taxiert – weitaus geringer also als etwa die Entdeckung von Elvis als quietschfideler Rentner (2000:1). Leicester City, «die Unglaublichen» (Mirror), «die Unmöglichen» (Sun) schafften die Sensation der Sensationen.

19 Millionen Euro Verlust für die britische Wettindustrie

«In der Geschichte der Sportwetten hat noch nie ein derart krasser Aussenseiter gewonnen», erklärte Buchmacher Ciaran O’Brian, nachdem das 2:2 von Verfolger Tottenham Hotspur beim FC Chelsea den ersten Ligatitel der Blauen besiegelt hatte, «die britische Wettindustrie hat heute um die 19 Millionen Euro verloren».

Leicester feierte, als habe die ganze Stadt im Lotto gewonnen, und das hat sie ja im Grunde auch. Meister, mit sieben Punkten Vorsprung, zwei Spieltage vor Saisonende: Eine Zeile, die sich selbst mit eineinhalb Tagen Abstand wie die Pointe eines lokalpatriotischen Witzes liest.



epaselect epa05287569 Leicester City supporters celebrate at Market Tavern after the English Premier League soccer match between Chelsea and Tottenham Hotspur, in Leicester, Britain, 02 May 2016. Leicester was crowned English Premier League champions for the first time in the club's history, clinching the title after a tie between Chelsea and Tottenham. EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA

Es sieht aus wie bei jeder Fangruppe, deren Mannschaft gerade Meister geworden ist – aussergewöhnlich ist, dass diese Mannschaft Leicester City heisst. (Bild: Keystone/FACUNDO ARRIZABALAGA)

Die Mannschaft hatte das Remis der Spurs im Haus von Jamie Vardy angeschaut. Über den vor vier Jahren noch in der fünften Liga beschäftigten Stürmer wird alsbald ein Hollywood-Film gedreht. Der 29-Jährige ist ein Spätentwickler wie Innenverteidiger Wes Morgan, der erst mit 30 sein erstes Erstligaspiel bestritt und kürzlich von Daily-Telegraph-Kolumnist und Ex-Spurs-Trainer Harry Redknapp als Mann für Englands EM-Kader («hätte eine Chance verdient!») vorgeschlagen wurde.

Morgan spielt schon seit Jahren für die Auswahl von Jamaika, aber wer kann das schon wissen? Die für vergleichsweise wenig Geld zusammengestellte Mannschaft, zusammen billiger als der von Manchester City für 80 Millionen Euro geholte Kevin De Bruyne, gewann ja als Small-Name-Truppe; allein Ex-Nationalspieler Robert Huth (mit Chelsea) hatte zuvor einen Meistertitel gewonnen. Eine «Strandgut-Elf» nannte der Guardian die Ansammlung von Verschmähten und Unterschätzten, aus denen der Algerier Riyad Mahrez, der Spieler des Jahres auf der Insel, und Mittelfeldmonster N’Golo Kanté herausragten.

Aufstieg in die Top 20 der reichsten Fussballvereine

Mit Einnahmen von 155 Millionen Euro allein aus den Fernsehrechten (Premier League und Champions League) wird Leicester in der kommenden Saison in die Top 20 der reichsten Fussballvereine der Welt aufsteigen, einen Ausverkauf wird es deswegen eher nicht geben.

Das Team hinter dem Team wurde jedoch zum Teil schon von Spitzenvereinen abgeworben: Zwei Spielerbeobachter, die unter anderem in den Untiefen der zweiten französischen Liga Mahrez (450’000 Euro, Le Havre) entdeckten, arbeiten seit Kurzem für den FC Arsenal respektive Tottenham.

» Video und Tweets zum Moment des Titelgewinns

Der mit Abstand wichtigste Überraschungstreffer gelang dem thailändischen Eigentümer Vichai Srivaddhanaprabha jedoch mit der Verpflichtung von Claudio Ranieri. Der 64-jährige Römer war 2004 von José Mourinho beim FC Chelsea beerbt worden, auf der Insel genoss er den zweifelhaften Ruf eines wankelmütigen Plauderonkels.

Die unsichtbare Glocke und Pizza für alle

«Vertrauen Sie uns», musste Geschäftsführerin Susan Whelan Medien und Fans bei der Vorstellung des Italieners bitten. Ranieri veränderte in der vom Abstiegskampf zusammengeschweissten Mannschaft die Abwehr (Vierer- anstatt Dreierkette), liess aber sonst fast alles beim Alten. Leicester spielte ein nahezu altmodisches 4-4-2-Kontersystem, mit der neunzehnt-schlechtesten Passquote der Liga, nahezu ohne Ballbesitz, dafür aber mit weitaus mehr Balleroberungen und Grätschen (1610) als die Konkurrenz.

Ranieri hat diese wahnsinnige Underdog-Romanze mit liebenswertem Humor moderiert; zu seinen Tricks gehörte das Läuten einer unsichtbaren Glocke auf dem Trainingsplatz («dilly-ding, dilly-dong») und Pizzeriabesuche nach Spielen ohne Gegentor. Bis in den April hinein hatte er sich eisern geweigert, Leicesters Titelkandidatur ernst zu nehmen. «Ich kann ja sagen, wir schaffen das!», sagte er, «aber ich bin nicht Obama».



Leicester's manager Claudio Ranieri takes to the touchline before the English Premier League soccer match between Manchester United and Leicester at Old Trafford Stadium, Manchester, England, Sunday, May 1, 2016. (AP Photo/Jon Super)

Wegen eines Essens mit seiner Mutter den Zeitpunkt des Titelgewinns verpasst: Trainer Claudio Ranieri. (Bild: Keystone/JON SUPER)

Er sei «stolz und glücklich» für die Spieler und alle Fans, «als Pragmatiker hätte ich das nie erwartet», erklärte Ranieri am Montagabend, in den Stunden zuvor hatte er noch mit seiner Mutter Renata, 96, in seiner Heimatstadt zu Mittag gegessen.

Die Buchmacher glauben: Das Einmalige wird einmalig bleiben

Dass Leicester der hemdsärmelige, in seiner Direktheit mitunter auch begeisternde Stil für Platz eins reichte, ist kein Kompliment für das Leistungsniveau an der englischen Spitze, lädt aber zukünftig zum Träumen ein. Die Besten müssen zwangsläufig nicht die Besten sein, an diesen im modernen Zeitalter weitgehend verschwunden geglaubten Zauber dieses Sports haben Ranieris Bandoleros alle wieder erinnert.

Das Einmalige wird jedoch einmalig blieben, glauben die englischen Buchmacher. Sie schätzen die Chancen auf einen Abstieg Leicesters in der kommenden Saison deutlich kleiner ein (Wettquote 16:1) als auf einen erneuten Meistertitel (25:1).

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