Am Sonntagnachmittag wurde aus RF der multiple Roger Federer. Überall auf der weitläufigen Anlage des All England Lawn Tennis and Croquet Club zu Wimbledon zeigte sich der Vielumjubelte: Zuerst auf dem Center Court, wo er den angeschlagenen und absolut chancenlosen Finalgegner Marin Cilic soeben sec in drei Sätzen besiegt hatte. Er schnappte sich nach der Ehrung den Pokal und machte eine Ehrenrunde im Stadion.
Danach verschwand er, tauchte aber immer wieder auf einer anderen Terrasse auf dem Gelände auf, wo er ins Publikum winkte und sich feiern liess. Später gab er über zwei Dutzend Fernsehstationen Interviews und erschien so ein weiteres Mal auf den Bildschirmen der Zuschauer in aller Welt.
Nehmen wir an, dass es tatsächlich noch irgendwo auf diesem Erdball Menschen gibt, die trotzdem noch nie von Roger Federer gehört haben. Was würden wir diesen Ahnungslosen erzählen? Damit auch sie sich eine Idee davon machen können, wie der Basler zu dem wurde, was er heute ist: Der grösste Tennisspieler der Geschichte, der aber weit über seine Sportart Tennis hinaus eine überwältigende Beliebtheit erlangt hat. Wenn er spielt, fiebert der fünfjährige Knirps genauso mit wie die 87-jährige Grossmutter – egal, wie viel sie vom Tennis und seinem Regelwerk verstehen.
Federers Tennis: «Knapp diesseits und knapp jenseits einer Grenze des erlern- und erklärbaren Könnens»
Tennisjournalisten, die etwas auf sich halten, zitieren gerne den verstorbenen Schriftsteller David Foster Wallace, um sich Federer anzunähern. Wallace schrieb in einer Ode an Federer, dass es eine fast schon religiöse Erfahrung sei, ihm beim Spielen zuzuschauen:
«Sein Slice mit der einhändigen Rückhand ist derart angeschnitten, dass der Ball in der Luft Figuren beschreibt und auf dem Gras höchstens bis auf Knöchelhöhe aufspringt.»
In diesem Stil geht es weiter, es klingt gut. Wir wählen aber eine örtlich näher liegende Variante, um den Ahnungslosen Federers Tenniskunst zu veranschaulichen. Die Basler Edelfeder Freddy Widmer, selbst ein begeisterter Tennisspieler, schrieb einmal in der «Basler Zeitung» über den Filzballkünstler:
«Sein Tennis setzt sich zusammen aus erlernter Tennistechnik, aus erarbeiteter Athletik, aus ausserordentlicher genereller spielerischer Begabung, aus Tennis-spezifischer Intuition und aus situationsbedingter, momentaner Inspiration. Federer bringt diese Faktoren in perfekte Harmonie zueinander, sein Tennis ist sozusagen ein Borderline-Tennis, es findet knapp diesseits und knapp jenseits einer Grenze statt, an der sich das erlern- und erklärbare Können einerseits und die unerklärbare Kunst andererseits berühren.»
«Danke, dass Sie mich an mein Alter erinnern»
Das klingt ebenfalls gut, vielleicht sollten wir bei unserer Beschreibung trotzdem lieber mit einer Zahl anfangen. Roger Federer, mit der ehemaligen Tennisspielerin Mirka Vavrinec verheiratet und Vater zweier Zwillingspaare, wird bald 36 Jahre alt – was Medienschaffende und Fans offenkundig viel mehr umtreibt als ihn selber. «Danke, dass Sie mich daran erinnern!», gibt er zurück, als ein Journalist ihn in Wimbledon auf sein Alter anspricht.
Für einen Normalsterblichen sind 36 Jahre noch kein Alter. Anders für einen Tennisspieler. «Tennisjahre zählen wie Hundejahre», sagte Boris Becker, der immer älter aussah, als er tatsächlich war. Bei Federer ist genau das Gegenteil der Fall.
Während seine grössten Konkurrenten die Strapazen der vergangenen Jahre allmählich spüren und in der diesjährigen Ausgabe von Wimbledon allesamt schwer ächzend am Stock gingen, schwebt Federer leichtfüssig über den Platz wie einst Fred Astaire übers Parkett von Hollywood. Es ist ihm kein bisschen anzusehen, dass er sich seit bald zwei Jahrzehnten auf höchstem Niveau misst.
1358 Partien und kein Ende abzusehen
1998 steigt Federer auf der Tennistour ein: Statt als Sieger des Juniorenturniers in Wimbledon das Champions Dinner zu besuchen, reist er nach Gstaad, wo er eine Wildcard erhalten hat. Gegen den argentinischen Lucky Loser Lucas Arnold, die Nummer 88 der Welt, verliert er 4:6, 4:6.
19 Jahre und 1357 Partien später ist seine Karriere längst zum Fortsetzungsroman geworden, von dem kein Ende abzusehen ist. «Ist es möglich», wird er während der Medienkonferenz nach seinem achten Triumph in Wimbledon gefragt, «dass Sie hier auch noch mit 40 Jahren spielen?»
Federer bejaht zuerst, fügt dann aber scherzhaft hinzu, dass das wohl nur möglich sei, wenn er 300 Tage davor mit Tennis aufhöre und sich dann in einer Kühlzelle einfrieren lasse, um verletzungsfrei ins Turnier starten zu können.
So wie er sich in dieser Saison präsentiert, scheint es allerdings auch ohne Eisschrank möglich, dass er noch zwei, drei, vier Jahre weiterspielt. Oder warum nicht gleich so lange wie Jimmy Connors? «Jimbo» erreichte als 39-Jähriger den Halbfinal des US Open und beendete seine Karriere erst mit 44 Jahren. Wir hätten in diesem Falle also noch neun weitere Federer-Jahre vor uns. Schöne Aussichten.
Das Spiel in Wimbledon vor 16 Jahren gegen Pete Sampras – «und plötzlich machte alles Sinn»
Möglich, dass ein Ahnungsloser an dieser Stelle fragen würde, weshalb Federer sich das in diesem Alter noch antue. Dann müssten wir ihm erklären, dass von antun keine Rede sein kann. Federer gehört zu jenen glücklichen Menschen, die ihre Arbeit nicht als Job, sondern als Hobby empfinden. «Ohne Tennis würde ich vermutlich in Basel leben und einen ganz normalen Job ausüben», sagte er einmal im gemeinsamen Gespräch.
Schon früh wollte er Tennisprofi werden und irgendwann ganz oben stehen. «Während wir die Top 100 der Welt als Ziel nannten, strebte er die Nummer 1 an», erinnert sich Yves Allegro, der einst mit Federer die Wohnung teilte, als sie in jungen Jahren in Biel trainierten. Was es mit sich bringt, in der Weltspitze mitzumischen, konnte er damals noch nicht ahnen.
Das ändert sich auf einen Schlag im Sommer des Jahres 2001, als er in Wimbledon als 19-Jähriger auf dem Centre Court gegen sein Idol Pete Sampras den ersten ganz grossen Auftritt hat – und prompt gewinnt. Jenes Spiel ist für Federer wie eine Offenbarung gewesen. «Oh, my God», dachte Federer, «ich realisierte, dass Tennis viel mehr ist als nur in kalten Tennishallen irgendwo in der Schweiz zu spielen.»
Federer ist fasziniert von der Atmosphäre eines grossen Stadions, vom Applaus, vom ganzen Drumherum mit den Ritualen und Traditionen, aber auch vom Wettmessen mit den besten Spielern der Welt. Von da an ist ihm klar, dass er das möglichst oft erleben möchte. «Plötzlich machte alles Sinn.»
Das Training fällt ihm fortan leichter. Tennis bereitet noch mehr Spass. Und es erweitert seinen Horizont. Federer lernt neue Orte und Persönlichkeiten kennen, die ihn inspirieren.
Federer muss im Pokalschrank Platz schaffen
Nicht alle erkennen, welche Privilegien dieser Sport den Besten der Welt bietet. Die beiden Australier Nick Kyrgios und Bernard Tomic hassen Tennis, wie sie wiederholt geäussert und auf dem Platz auch gezeigt haben. Man kann deshalb davon ausgehen, dass ihre Erfolge überschaubar bleiben – wenn sie ihre Einstellung nicht radikal ändern.
Federer liebt seinen Sport und ist stolz auf das, was er erreicht hat. Auf der Lenzerheide hat er sich in seinem Anwesen ein Pokalzimmer eingerichtet. Manchmal führt er den Besucher durch den Raum und dann betrachten sie gemeinsam die Pokale und die vielen Auszeichnungen, die er eingeheimst hat.
Wenn Federer so oft weiter gewinnt wie zuletzt – Wimbledon bedeutete seinen 93. Turniertitel – muss er möglicherweise bald ausbauen. «Derzeit reicht es noch», sagt Federer nach seinem Sieg gegen Cilic, «wenn wir die Pokale zusammenrücken.»
Dass überhaupt so viele Trophäen zusammengekommen sind, hat zu einem grossen Teil mit seiner Fähigkeit zu tun, richtige Entscheide zu treffen. Oder daraus zu lernen, wenn er sich falsch entschieden hatte.
Im Jahre 2013 etwa leidet er unter heftigen Rückenbeschwerden, hätte besser pausiert und einen Neuaufbau gestartet. Stattdessen reist er nach Wimbledon und kassiert in seinem Wohnzimmer, dem Centre Court, eine krachende Zweitrunden-Niederlage gegen den bis dahin eher mediokren Sergei Stachowski. Danach hat er immer noch nicht genug: In Gstaad geht es gegen Daniel Brands, Federer trifft fast keinen Ball und zeigt die bis heute wohl schlechteste Darbietung seiner Karriere. Der ewig jung Gebliebene sieht plötzlich uralt aus.
Als Federer im vergangenen Jahr das Knie zu schaffen macht, hätte er trotzdem weiterspielen können. Die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro, insbesondere das Mixed mit Martina Hingis, wären verlockend gewesen. Doch Federer bricht die Saison vorzeitig ab, widmet sich ein halbes Jahr dem Neuaufbau seiner Physis, geht im Appenzell wandern und macht auch sonst Dinge, für die er vorher nie Zeit gehabt hat.
Der Rest ist bekannt, ausser einem Ahnungslosen: Federer, von vielen bereits als Auslaufmodell abgestempelt, zeigt ein unwiderstehliches Comeback und begeistert die Tenniswelt.
«Wenn ich irgendwann weg bin, kommt ein anderer. Tennis lebt auch ohne mich»
Und nun doppelt er in Wimbledon nach. Sehr zur Verzückung der Fans. Federer ist die sichere Konstante, in einer Welt, die die Menschen mit ihren rasanten Umwälzungen verunsichert. «Wenn er spielt, steht die Zeit still», sagt der indische Doppelspezialist Leander Paes, der mit 44 Jahren ebenfalls noch immer mitspielt. Anhänger in aller Welt geniessen jeden Auftritt.
Federer selber findet zwar, dass der Sport grösser sei als ein einzelner Spieler: «Wenn ich irgendwann weg bin, kommt ein anderer. Tennis lebt auch ohne mich.» Doch derzeit ist das nur schwer vorstellbar, wie das Turnier in Wimbledon gerade gezeigt hat.
Zieht man die Auftritte von Federer ab, bleibt wenig übrig, das in den Bann zieht. Am ehesten noch das Fünfsatz-Drama zwischen Rafael Nadal und Gilles Muller. Doch Nadal, der zweitpopulärste Spieler auf der Tour, schied aus, und so blieb nur Federer übrig.
Wir könnten den Ahnungslosen noch viel erzählen – etwa, dass Federer in all den Jahren tatsächlich der Gleiche geblieben ist und er keinerlei Allüren kennt. Vielleicht ist es aber auch gar nicht nötig. Die Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwann auch in der hintersten Ecke dieser Welt von ihm hört, steigt ohnehin mit jedem weiteren Spiel.
Andreas W. Schmid hat Roger Federer lange Zeit für die «Basler Zeitung» begleitet. Nun arbeitet er für die «Coopzeitung», und im Interview mit dieser hat Federer unlängst seine Ernährungsgepflogenheiten preisgegeben: «Früher war ich Vegetarier»