Er ist 19 Jahre alt, hat eine steile Karriere gemacht und ist der neue Hoffnungsträger der Engländer: Raheem Sterling. Das Nachsehen hat der bisherige Held: Wayne Rooney.
England gefiel sich ausgesprochen gut im Auftaktspiel gegen Italien, die an Euphorie grenzende Zufriedenheit mit der «unerschrockenen, mutigen Leistung» (Assistenztrainer Gary Neville) hat den Anfang der Woche allerdings nicht überlebt. Wiederholte Blicke auf die Tabelle der Gruppe D, in der das Team mit den drei Löwen im Wappen auf Platz drei (null Punkte, 1:2 Tore) geführt wird, erweckten vor dem Schlüsselspiel gegen Uruguay in São Paulo die üblichen Reflexe. Der Schuldige an dem potenziellen Vorrunden-Aus ist bereits ermittelt.
Aktuell ist ein Reservist der mediale Prügelknabe. Das erscheint ein bisschen unfair, kann aber nicht wirklich überraschen, da es sich bei dem Betroffenen um Wayne Rooney handelt. Roy Hodgson liess den 28-Jährigen auf dem Trainingsgelände von Urca fernab der Stammelf Einzelübungen mit Fitnesstrainern machen und Torschüsse trainieren. Diese Sonderbehandlung mag profane Gründe haben, naturgemäss verschärfte sie jedoch die Debatte. «Wie löst man ein Problem namens Wayne?» fragte die Times.
Da stand er noch vor Sterling: Wayne Rooney holt sich in der Vorbereitung eine Abkühlung ab. (Bild: WOLFGANG RATTAY)
Es ist zuallererst die Enttäuschung, die aus den Kritiken spricht; das Vereinigte Königreich befürchtet, dass der Ausnahmespieler seiner Generation auch in diesem Turnier sein Versprechen nicht erfüllt. Rooneys grösstes Pech aber ist, dass sich die Sehnsüchte des Landes an einem neuen, jüngeren, unbeschwerteren Helden entzünden, der noch dazu exakt in seiner Lieblingsposition spielt.
Teenager Raheem Sterling durfte nach «beglückend guten Trainingsauftritten» (Hodgson) sein WM-Debüt geben, und der 19-Jährige zeigte in Manaus im zentralen offensiven Mittelfeld, dass sich explosive Intuition und Intelligenz vereinen lassen. Hodgson wird am Donnerstag an dem Tempodribbler vom FC Liverpool festhalten, allein schon aus politischen Gründen. Einen Misserfolg mit jugendlichem Offensivgeist wird man dem 66-Jährigen eher nachsehen.
Hat allen Grund zum Lachen: der neue Liebling der Engländr, Raheem Sterling. (Bild: DARREN STAPLES)
Wie hoch die Sympathiewellen für Sterling schlagen, lässt sich unter anderem an den Liebesbekundungen der rechtspopulistischen «Daily Mail» ablesen, die gemeinhin nicht im Verdacht steht, Immigrantenkinder hochzujubeln. «Vom Bad Boy zu unserer neuen Hoffnung», lautete am Dienstag die pathetische Schlagzeile zu Sterlings bisherigen Karriereverlauf, der tatsächlich etwas von einem modernen Fussballmärchen hat.
Er kam als fünfjähriges Kind aus Kingston (Jamaika) nach London und lebte dort mit seiner Mutter in einem berüchtigten Block von Sozialwohnungen, eine BMX-Radfahrt entfernt vom Wembley-Nationalstadion. Raheem fing oft Streits an, er konnte sein Temperament schwer kontrollieren und wurde von der Stadtverwaltung in eine Sonderschule für verhaltensauffällige Kinder geschickt. Aber sein Talent war unübersehbar. «Wenn du so weiter machst, landest du entweder im Gefängnis oder in der englischen Nationalmannschaft», sagte sein damaliger Lehrer Chris Beschi dem Zehnjährigen.
Wenn Sterling die Verteidiger foulen, foult Kapitän Steven Gerrard zurück.
Die Queens Park Rangers nahmen ihn unter Vertrag, der FC Liverpool zahlte eine halbe Million Pfund, um ihn mit 15 Jahren aus London zu verpflichten. In der vergangenen Saison, die für die Reds fast mit dem sensationellen Gewinn geendet hätte, gelang Sterling (zehn Tore) unter Brendan Rodgers der endgültige Durchbruch. Liverpools Trainer machte aus dem gelernten Flügelspieler einen auch aus zentraler Tiefe operierenden, zweiten Stürmer, bei dem der Gegner nie genau weiss, von welcher Position er als nächstes auf ihn losstürmt.
«Heemio» nennen ihn die Mitspieler in Liverpool, wegen seiner brasilianischen Tricks. Und wenn ihn die Verteidiger foulen, foult Kapitän Steven Gerrard zurück. «Er passt auf mich auf, auf und neben dem Rasen», sagte Sterling. Gerrard konnte zwar nicht verhindern, dass Sterling in ein paar Raufereien verwickelt wurde – eine Anklage wegen Körperverletzung wurde fallen gelassen, in einem anderen Prozess wurde er freigesprochen – aber Mutter Nadine fungiert als Korrektiv. «Sie ist mein José Mourinho», hat Sterling erzählt.
«Meine Mutter ist mein José Mourinho.»
Internet-Gerüchte, laut denen er bereits fünf Kinder gezeugt habe, hat er lachend abgetan («es sind acht!»), doch er wurde mit 17 Jahren tatsächlich zum Vater. Ein Tattoo mit dem Namen von Tochter Melody Rose ziert seinen linken Arm, wo unter anderem auch das Wembley-Stadion verewigt ist.
«Das ganze Land liebt es, ein Drama um einen einzelnen Spieler zu machen», sagte Gary Neville am Dienstag. Damit war die Diskussion um Wayne Rooney gemeint, aber das gilt natürlich auch für die positive Überzeichnung der Kicker Ihrer Majestät. Ein Tor oder zwei gegen die Südamerikaner würde schon reichen: für den ganz grossen «Heemio»-Hype.