Englands Rugby-Nationalteam bringt fertig, was noch nie passiert ist: Der Gastgeber der Weltmeisterschaft scheitert bereits in der Vorrunde und das ausgerechnet gegen brillante Australier. Die Bestürzung auf der Insel ist gross.
Szenen des englischen Scheiterns, hier festgehalten wie in einem Gemälde eines alten Meisters: Englands Kapitän Chris Robshaw.
(Bild: Reuters/Stefan Wermuth)Szenen des Scheiterns: Kapitän Chris Robshaw und die verwelkte englische Rose.
(Bild: Reuters/Henry Browne)Szenen des Scheiterns: England – hier mit Kapitän Chris Robshaw – bringt es fertig, als erstes Heimteam schon in der Vorrunde einer WM auszuscheiden.
(Bild: Reuters/Stefan Wermuth)Australische Rugby-Kunst beim historischen Sieg über England.
(Bild: Reuters/Eddie Keogh)Im Landeanflug: Der Australier Matt Giteau punktet in Twickenham.
(Bild: Reuters/Stefan Wermuth)Obenauf: Australische Rugby-Fans in Twickenham, an jenem mystischen Ort ihres Sports, wo Australien schon viele Niederlagen hinnehmen musste, ehe es jetzt an der WM gegen Gastgeber England triumphiert.
(Bild: Reuters/Andrew Winning)Australien obenauf: Rob Simmons behauptet das Ei.
(Bild: Reuters/Stefan Wermuth)Englische Fassungslosigkeit nach dem Aus an der Heim-WM.
(Bild: Reuters/Eddie Keogh)Es war, als hätten es die Engländer schon vorher gewusst, dass ihnen die Brüder von Down Under den Garaus machen würden. In einem kurzen Leitfaden zur Rugby-Weltmeisterschaft riet eines der kostenlosen Metro-Blätter von London vor der WM den Rugby-Laien: «Tragt die Rose auf der Brust, singt immer wieder ‹Swing Low, Sweet Chariot› und buht die Aussies aus.»
Ein Leitfaden zum Rugby und der WM in England, dem drittgrössten Sportereignis auf der Welt.
Die Rose – das Symbol des englischen Rugby-Verbandes – ist nun schon früh verwelkt. Und in den Abendstunden sang im Rugby-Tempel Twickenham auch kein einziger Engländer mehr ein Lied. Stattdessen schallte die inoffizielle australische Hymne «Walzing Matilda» über die bereits leergefegten Ränge, während unten auf dem Rasen die Kolosse in den weissen Shirts völlig konsterniert einen Scherbenhaufen zusammenzufegen schienen.
Der historische Tiefpunkt
Genau genommen den grössten Scherbenhaufen der englischen Rugby-Geschichte. Das gerade besiegelte 13:31 gegen Australien bedeutete – nach dem verlorenen Spiel gegen Wales am Samstag vor einer Woche – die zweite Niederlage in der Gruppenphase und das gleichzeitige Ausscheiden aus dem Turnier. Noch nie zuvor in der Geschichte des prestigeträchtigen Rugby World Cups war eine englische Mannschaft in der Gruppenphase ausgeschieden. Und noch nie zuvor ein Gastgeber.
» Die Fakten zum Rugby World Cup
Dabei sprachen die Statistiken vor der zur Entscheidungsschlacht hochstilisierten Partie durchaus für die Lokalmatadore. Bei vier der letzten fünf Länderspiele und den vergangenen drei Weltmeisterschaftsbegegnungen gingen die Engländer als Sieger vom Platz. Das Twickenham-Stadion zumal war für australische Mannschaften in der Vergangenheit wiederholt zum Friedhof geworden.
Sehnsuchtsort der englischen Rugby-Fans: Das Twickenham Stadium vor den Toren Londons. Diesmal wurde es zum Friedhof der eigenen Hoffnungen. (Bild: Reuters/Andrew Couldridge)
Doch dieses Mal war es noch nicht mal wirklich knapp. Wann immer die Wallabies gegenerisches Territorium betraten, kamen sie mit Punkten zurück. Zum Matchwinner wurde Bernard Foley, der mit zwei Tries und vier verwandelten Penalties für 28 von 31 Punkten der Australier verantwortlich war.
Der taktische Schachzug
Den Engländern hingegen glückte vor allem in der ersten Halbzeit einfach gar nichts. Immer wieder wurden deren Attacken von der Doppel-Sieben Michael Hooper und David Pocock gestoppt. Normalerweise spielen moderne Rugby-Teams mit einem Openside Flanker (Flügelstürmer), der die dafür vorgesehene Rückennummer 7 trägt.
Openside Flanker sind jene Spieler, die am flexibelsten auf veränderte Spielsituationen reagieren können. Sie müssen Tackling und Passspiel beherrschen und sind deshalb die grössten Allrounder auf dem Spielfeld. Mittlerweile spielen oftmals die Kapitäne der Mannschaften auf dieser Position. Völlig überraschend waren die Wallabies mit gleich zwei «Siebenern» aufgelaufen. Ein Schachzug gegen den die Engländer bis zum Schlusspfiff keine Antwort fanden.
«Wir haben die englischen Fans im Stich gelassen»
Auch England-Trainer Stuart Lancaster konnte es nach der Partie immer noch nicht fassen, dass sein Team nun, nach noch nicht mal der Hälfte des Turniers zum Zuschauen verdammt ist: «Ich bin wahnsinnig enttäuscht. Wir haben die englischen Fans im Stich gelassen. Aber Australien war der mit Abstand beste Gegner der vergangenen 18 Monate und uns in jedem Bereich auf dem Spielfeld überlegen. Ich finde einfach keine Worte dafür, dass für uns jetzt alles schon vorbei ist.»
Vom Posterboy zum grossen Gescheiteren: Englands Kapitän Chris Robshaw. (Bild: Reuters/Stefan Wermuth)
Neben ihm auf dem Podium des Presseraums sass Kapitän Chris Robshaw mit Schrecken im Gesicht. Wohl wissend, dass man vor allem auch ihm das Desaster ankreiden wird. Robshaw war vor dem Turnier zum Posterboy aufgebaut worden, zeigte sich aber in den Partien gegen Wales und Australien überfordert, der Mannschaft aus No Names (für 24 von 31 Spielern war es die erste WM-Teilnahme) den richtigen Teamgeist einzuhauchen.
Höchststrafe für die Engländer
Der «Independent» zeichnete Chris Robshaw & Co dann auch recht hämisch die nahe Zukunft vor Augen. «Jetzt sind die Spieler wenigstens rechtzeitig zurück, um für ihre Clubs am Eröffnungswochenende der Premiership aufzulaufen. Am selben Wochenende beginnen beim World Cup die Viertelfinals. Gibt es eine grössere Strafe für einen schon am Boden liegenden Rugbyspieler?
Stuart Lancaster, der angeschlagene Trainer der englischen Rugby-Nationalmannschaft, am Tag nach dem Ausscheiden. (Bild: Reuters/Henry Browne)
Stuart Lancaster, dessen Vertrag noch vier Jahre läuft, bat Journalisten und Fans am Ende um ein wenig Geduld mit seiner Mannschaft: «Die meisten Spieler stehen am Anfang ihrer Karriere. Der Umbruch nach der Ära Jonny Wilkinson braucht Zeit.» Doch bereits wird über die vorzeitige Ablösung von Lancaster spekuliert. Ob der Headcoach weiter machen kann ist offen, und sein Versprechen («Ihr werdet noch viel Freude an diesem Team haben») steht in den Sternen.
Der Sarkasmus der Fans
In der grauen Gegenwart muss der diesjährige Rugby World Cup nun ohne die Fahnen mit dem Sankt Georgs-Kreuz auskommen. Bei den englischen Fans, die ihre Tränen in der Themse und ihren Kummer in unzähligen Pints vergossen, machte sich allerdings schon wenig später wieder englischer Sarkasmus breit.
Sein vor dem Spiel neugekauftes T-Shirt – twitterte ein Fan – könne er nun noch innerhalb der 14-tägigen Rückgabefrist zurückschicken. Und wenn schon kein Stolz zu haben sei, so ein anderer, dann würde man mit dem Verkauf der nun überflüssigen Play-Off-Tickets wenigstens zum Millionär.
Folgen für die Volkswirtschaft
Doch auch finanziell könnte das Ausscheiden den so geschäftstüchtigen Engländern noch wehtun. Professor Alex Edmans von der London Business School rechnete schon vor dem Spiel am Samstagabend die Risiken eines frühen Ausscheidens vor. «Wenn ein Gastgeber so früh aus einem so wichtigen Turnier ausscheidet, hat das in der Regel einen sehr negativen Effekt auf die Investoren-Stimmung. Am Aktienmarkt könnte das einen Verlust von fast drei Milliarden Pfund ausmachen.» 60 Millionen Pfund, so Erdman könnten an TV-Übertragungseinnahmen verloren gehen. Und weitere zehn Millionen für Pubs und Restaurants in London.
Für die Australier ist das natürlich alles unwichtig. Sie gelten nach ihrer brillanten Performance nun wieder als Titelfavorit. Sehr zum Ärger der gastgebenden Pom’s (hämische Bezeichnung der Australier für die Engländer – Akürzung für «prisoners of her majesty). Denn es könnte ein klassischer Hattrick werden. Zwei Weltmeisterschaften fanden bisher auf der Insel statt (1991 und 1999). Und beide Mal hielten am Ende die Australier den Webb-Ellis-Cup in den Himmel.
Triumphatoren: Die Australier – hier mit Bernard Foley (rechts) und Rob Simmons – werfen die Gastgeber aus dem WM-Turnier. (Bild: Reuters/Andrew Couldridge)