Federers Halbfinal-Gegner Hyeon Chung: Der Mann mit der Sehschwäche

Ein Südkoreaner mischt das erste Grand-Slam-Turnier des Jahres auf und fordert an diesem Freitag (9.25 Uhr) in Melbourne Titelverteidiger Roger Federer heraus. Hyeon Chung gilt vielen Experten als eine überarbeitete Version des Bewegungskünstlers Novak Djokovic.

Markenzeichen Sportbrille: Manche munkeln, Chung Hyeon sehe damit den Ball so gut, als wäre es ein Luftballon.

Eigentlich hätte Hyeon Chung Fussballer werden müssen. Als er noch ein Kind war, empfahl ein Augenarzt seinen Eltern, der Sohn solle sich auf die Farbe Grün konzentrieren, um etwas gegen seine Sehschwäche (Kurzsichtigkeit, Hornhautverkrümmung) zu tun. Lange überlegten Vater und Mutter Chung, wie sie mit dem Ratschlag des Doktors verfahren sollten. Dann entschieden sie: Tennis, der auffällig gelbe Filzball – das würde irgendwie auch genügen, um die Augen zu stärken. 

«Ich habe Tennis dann vom ersten Moment an geliebt», sagt Chung heute. Der Mann, der gerade bei den Australian Open der schlagzeilenträchtige Sensationsmacher ist. Und er ist der Spieler, der sich mit seinen gerade mal 21 Jahren an diesem Freitag (ab 9.25 Uhr live auf SRF2) einem gewissen Roger Federer in den Weg stellen will – in seinem ersten Grand-Slam-Halbfinale. «Es ist cool, endlich mal gegen ihn zu spielen», sagt Chung.

Überraschende Stärken

Chung, der am Mittwoch im Duell der Überraschungsprofis 6:4, 7:6 und 6:3 gegen den US-Amerikaner Tennys Sandgren gewann, ist ein ungewöhnlicher Typ. Nicht nur, weil er stets eine kompakte Sportbrille trägt, wegen der ihn in Spielerkreisen einige klischeehaft den «Professor» nennen. Ungewöhnlich an ihm ist auch, dass man dem gedrungenen Youngster nicht ansieht, wie überaus geschmeidig und gewandt er über die Centre Courts flitzt – fast wie eine hochaktuelle, überarbeitete Version des Bewegungskünstlers Novak Djokovic. 

Gegen ihn, gegen den langjährigen Dominator der Branche, gewann er am Montag im Achtelfinale das Spiel seines Lebens, bekam anschliessend von Djokovic das wohlverdiente Kompliment nachgereicht, er habe «schlicht unglaublich gespielt.» 

Kurios, aber wahr: Gerade bei der Hand-Augen-Koordination wirkte es, als habe der junge Südkoreaner schier unmenschliche Fähigkeiten. «Er sieht die Bälle offenbar so gut, als wären sie so gross wie Luftballons», sagte Paul Annacone, früher einmal der Coach des Branchenführers Pete Sampras.

Grosse Euphorie in Südkorea: Für den Traum vom ersten nationalen Grand-Slam-Champion müsste Chung in Melbourne erst einmal Roger Federer bezwingen.

Chung zog einst im zarten Alter von 13 Jahren in die Fremde aus, um seinen Traum von einer grossen Tenniskarriere zu verwirklichen. Knappe drei Jahre trainierte er fern der Heimat und fern der Familie in der berühmten Talentschmiede von Nick Bollettieri in Bradenton (Florida), danach kehrte er physisch und mental gestärkt zurück nach Südkorea. «Es war eine harte Lehrzeit. Aber auch eine ideale Schule, um mich auf die Anforderungen auf der Tennistour vorzubereiten», sagt Chung. 

Everybody’s Darling

Früh stellte er sich schon den Prüfungen auf der Challenger-Serie, gewann mit 18 Jahren seinen ersten Pokal – und danach noch sieben weitere Turniere. «Er war schon immer ein sehr erwachsener Kerl. Einer, der sehr genau wusste, was er wollte und tat», sagt Neville Godwin, sein südafrikanischer Trainer. 

2015 wählten ihn die eigenen Kollegen bereits zum «Most improved Player», zum Spieler, der sich in der Saison am meisten fortentwickelt hatte. Schönheitsfehler: Chung konnte die Trophäe nicht selbst in Empfang nehmen, da er gerade vom südkoreanischen Militär eingezogen worden war.

https://www.srf.ch/sport/tennis/grand-slam-turniere/gegen-den-senkrechtstarter-chung-als-halbfinalgegner-das-gibt-federer-zu-denken

Nun aber sorgt er in der Heimat für Euphorie und Traumszenarien vom ersten nationalen Grand-Slam-Champion – mehr noch als der bisher einzige Weltklassespieler Hyung-taik Lee, der es bis auf Platz 36 der Charts brachte. 

Chung hat grösseres Potenzial. Er wird schon nach diesen Grand Slam-Festspielen bis knapp an die Top 20 heranrücken. Schon zum Ende der Saison 2017 hatte er das «NextGen»-Finale in Mailand gewonnen. Es war sein erster grosser Titel, und auch eine Initialzündung, noch mehr seinen Kräften und Qualitäten zu vertrauen. «Ein Durchbruchmoment» sei das gewesen, sagt Godwin, der Coach. 

Tatsächlich spielt Chung in Melbourne auf, als gäbe es keine Gegner, vor denen er sich fürchten müsse. «Angst vor grossen Namen sieht man bei ihm nicht», befindet Boris Becker, Melbourne-Champion von 1991 und 1996, «er ist ein Typ, den man einfach gern haben muss.» 

Grosse Gefühle: Chung bejubelt seinen ersten Einzug in ein Grand-Slam-Halbfinal.

Gerade gegen Djokovic, das Idol aus eigenen Kinder- und Jugendtagen, spielte Chung unbeschwert drauf los, mit teils atemraubender Selbstverständlichkeit. So jedenfalls trat kein Spieler auf, der auf Erfolge in einem unbestimmten Morgen hoffen musste. Sondern wie einer, der schon angekommen war im Kräftespiel der Mächtigen.

Fehlt nur noch etwas Englisch  

Was Chung gelegentlich noch ein wenig Mühe macht, ist das flüssige Englisch, die Sprache des Wanderzirkus. Aber auch daran arbeitet er. Zuletzt schaute er sich haufenweise US-Serien wie «Prison Break» oder «Modern Family» an, um sich besser verständlich zu machen. Gegen Sandgren versiebte er am Mittwoch drei Matchbälle, weil er schon «daran dachte, was ich bei dem Siegerinterview später sagen soll», wie er sagt. 

Dann besann er sich auf das Wesentliche zurück, die Volltreffer auf dem Centre Court. Der perfekte Ausdruck daneben, die richtigen Vokabeln, sie können notfalls noch ein bisschen warten.

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