Fussballer kennen (k)einen Schmerz

Überführte Dopingsünder gibt es im Fussball wenige, dafür einen exzessiven Gebrauch von Schmerzmitteln. Jetzt schlägt sogar die Fifa Alarm.

Schmerz lass nach: Profifussballer – hier der Franzose Franck Ribéry an der Euro 2012 – werfen Schmerzmittel ein wie andere Leute Smarties. (Bild: Reuters/ALESSANDRO BIANCHI)

Überführte Dopingsünder gibt es im Fussball wenige, dafür einen exzessiven Gebrauch von Schmerzmitteln. Jetzt schlägt sogar die Fifa Alarm.

Die Beruhigungspille verabreichte die Uefa dieser Europameisterschaft bereits vor dem Anpfiff. Alle 160 Dopingproben, die bei den 16 Mannschaften im Vorfeld des Turniers genommen worden waren, sind negativ ausgefallen. Das war bei allen grossen Fussballanlässen der jüngeren Vergangenheit so. Den letzten prominenten Do­pin­gfall gab es 1994, als Diego Armando Maradona mit einem Schnupfenspray in der Kontrolle hängenblieb

Das suggeriert einen dopingfreien Fussball, was aber beileibe nicht so ist: Bei der Frauen-WM vor einem Jahr in Deutschland wurden gleich fünf nordkoreanische Spielerinnen positiv getestet, Sperren von mehr als einem Jahr ausgesprochen und das Team durch die Fifa von den kommenden Titelkämpfen ausgeschlossen.

Bei der laufenden Euro 2012 in Polen und der Ukraine fehlt der Stammtorhüter der Ukrainer. Oleksandr Ribka von Schachtjor Donezk war im November 2011 bei einer Trainingskontrolle ins Netz der Fahnder gegangen. Im Urin des 24-Jährigen wurden Spuren eines verbotenen harntreibenden Mittels gefunden. Statt in seinem Heimatland die grosse Fussballsause zu feiern, sitzt Ribka gerade eine zweijährige Sperre ab.

Das wurde erst wieder ins Bewusstsein gerufen, als die Ukrainer kurz vor Turnierbeginn in Ingolstadt ein Testspiel gegen die Türkei mit 0:2 verloren. Anschliessend machte Trainer Oleg Blochin eine Lebensmittelvergiftung bei seinen Spielern dafür verantwortlich. Das Ablenkungsmanöver wurde zum Bumerang. Das oberbayrische Fünfsternehotel, in dem die Ukrainer abgestiegen waren, wehrte sich entschieden, der ukrainische Clubtrainer Alexander Sawarow meldete sich daraufhin zu Wort und machte nebulöse Dopingvorwürfe.

Bei der WM 2010 nahmen
60 Prozent der Spieler Schmerzmittel.

Die europäische Fussballdachorganisation Uefa wie auch der Weltverband Fifa rühmen ihre Anti-Doping-Programme und Kontrollsysteme, auch wenn sie Lücken und Mängel aufweisen. Bluttests etwa führte die Uefa erst zur Euro 2008 ein, und vor der WM 2010 wussten Funktionäre und Spieler, in welchem Zeitraum Kontrollen vor dem Turnier stattfinden werden. Während der Endrunde wurden pro Partie zwei Spieler pro Team ausgelost und getestet. Hinterher berichtete die Fifa stolz, dass sämtliche 552 Blut- und Urintests – doppelt so viele wie 2006 – negativ ausgefallen waren.

Die Mär vom dopingfreien Fussball

«Die Testergebnisse zeigen uns, dass Spitzenleistungen im Fussball auch ohne verbotene Wirkstoffe und Methoden möglich sind», verkündete Fifa-Chefarzt Jiri Dvorak. Eine ganz andere Einordnung nimmt ein Professoren-Kollege von Dvorak vor. «Diese Tests können sie sofort vergessen. Das ist reine Geldverschwendung», sagt Perikles Simon von der Universität Mainz. Er nennt es sogar unverfroren, wie die Verbände mit ihren negativen Testergebnissen prahlen: «Damit deklariert man einen dopingfreien Fussball. Aber das geht auf dieser Basis, mit angekündigten, nicht intelligenten Kontrollen einfach nicht.»

Nun hat die Fifa – nicht zum ersten Mal – auf ein ganz anderes Problemfeld hingewiesen: die Einnahme erlaubter Medikamente. Einer Studie zufolge nahmen 60 Prozent aller bei der WM 2010 eingesetzten Spieler Schmerz­mittel, 39 Prozent vor jedem Spiel und manche bis zu drei Medikamente auf einmal. Seit 1998 sammelt die Fifa bei allen Turnieren Daten, darunter die Angaben der Spieler und Teamärzte bei Dopingkontrollen, welche Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel die Sportler in einem gewissen Zeitraum vor dem Test geschluckt haben. Dvorak ist alarmiert: «Selbst auf U17-Level nehmen zwischen 20 und 25 Prozent der Spieler entzündungshemmende Medikamente und Schmerzmittel.»

Wunderwaffe Diclofenac

Zu den gebräuchlichsten Präparaten gehört das von Novartis produzierte Voltaren mit dem Wirkstoff Diclofenac, der unter die nicht-steroidalen Entzündungshemmer fällt und schnell auch gegen starke Schmerzen hilft. «Unter Fussballern so beliebt wie die Flasche Bier auf dem Bau und Waffeleis unter Grundschülern», beschrieb der «Spiegel» die «Wunderwaffe».

Die Fifa warnte bereits 2008 nach der Veröffentlichung erster Studien, inzwischen spricht Dvorak von «Missbrauch» und fordert deshalb nun von der Welt-Antidoping-Agentur Wada strengere Regeln.

Für Hans Geyer, Geschäftsführer des Zentrums für präventive Dopingforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln, ist klar: «Schmerzmittel erfüllen meiner Meinung nach alle Bedingungen einer Dopingsubstanz. Sie schalten den Schutzmechanismus des Körpers aus. So kann eine deutlich höhere Leistung gebracht werden, die mit Schmerzen nicht möglich wäre. Schmerzmittel werden schon im Training genommen, dadurch sind höhere Trainingsumfänge und -intensitäten möglich.» Mögliche Nebenwirkungen wie Leber-, Nieren- oder Magenschäden blenden Leistungssportler aus.

Huggel, Ergic und die Schmerzmittel

Auch Spieler des FC Basel können davon ein Lied singen. Benjamin Huggel, der mit knapp 35 Jahren gerade seine Karriere beendet hat, erzählt, er habe während seiner 14 Profijahre stets ohne Medikamente trainieren können. In den letzten Jahren, vor allem nach einem Eingriff am Knie, habe er vor Spielen allerdings prophylaktisch zu Präparaten wie Voltaren gegriffen, später zum magenverträglicheren Irfen.

«Im Sport nimmt man Medikamente,
um mehr Leistung zu bringen.»

«Profifussball ist ungesund, da muss man sich nichts vormachen», sagt Huggel, «und bei Verletzungen wird immer versucht, die Zeit der Heilung zu verkürzen. Aber ich habe die Mittel nie auf nüchternen Magen genommen, habe die Ärzte nach Nebenwirkungen gefragt und Medikamente nie dauerhaft verwendet. Sonst hätte ich sofort aufgehört.»

Ivan Ergic, der bis vor drei Jahren im rotblauen Trikot seine Knochen hingehalten hat, schildert seine Erfahrungen noch drastischer. «Das begann schon als 17-Jähriger in Perth, als ich vor dem entscheidenden Spiel der austra­lischen Meisterschaft eine Sprunggelenkverletzung hatte und mir Cortison gespritzt wurde. Entzündungshemmer und Schmerzmittel habe ich von Anfang an gekannt, man nimmt sie wie Smarties.»

Im Preis inbegriffen

In der ersten Champions-League-Saison mit dem FC Basel schleppte Ergic Leisten- und Adduktorenbeschwerden mit sich herum. Er konnte noch im Heimspiel gegen den FC Valencia zu Hochform auflaufen, dann musste operiert werden. «Durch die Medikamente wurde das nur hinausgezögert», so Ergic.

Er geht so weit zu sagen, dass kein Spieler völlig schmerzfrei ins Training oder Spiel geht. Insofern überrascht ihn zwar, dass die Fifa diese Studie vorgelegt hat, nicht aber die Ergebnisse. Dass Spieler zu schmerzdämpfenden Mitteln greifen, bezeichnet Ergic als «Teil der Sportkultur. Es ist ein Akt des Märtyrertums, den Schmerz zu überwinden. Man wird dafür hochgejubelt.»

Er selbst lieferte im August 2008 ein Beispiel dafür. Eine Sprunggelenkverletzung machte im entscheidenden Spiel der Champions-League-Qualifikation seinen Einsatz eigentlich unmöglich. «Ich weiss nicht, wie viele Tabletten ich geschluckt habe», schildert Ergic. Er wollte in diesem kapitalen Spiel spielen, Trainer Christian Gross bekniete ihn, Ergic spielte so gut es ging, bereitete das erste Tor vor, das dem FCB den Weg an die Honigtöpfe ebnete – und fiel danach wochenlang aus.

«Jeder Trainer denkt kurzfristig», sagt Ergic, «und Mannschaftsärzte wollen sich keine Blösse vor dem Trainer geben.» Der 31-Jährige, der bis vor einem Jahr bei Bursaspor in der Türkei spielte, inzwischen die Gedanken an eine Fortsetzung der Profilaufbahn von sich geschoben hat und im Moment mehrheitlich in Belgrad lebt, hat eine Erkenntnis mitgenommen: «Im Sport nimmt man Medikamente nicht, um gesund zu werden, sondern um Leistung zu bringen.» Auf einem Spieler laste ein indirekter Druck: «Es wird erwartet von dir, solche Präparate zu nehmen, es gehört zum Kodex der Leistungsgesellschaft, du bist gut bezahlt, und es ist im Preis inbegriffen.»

FCB-Arzt beobachtet keinen exzessiven Konsum

Seit 1979 ist Felix Marti Teamarzt beim FC Basel und seither nie mit einem Dopingfall konfrontiert gewesen. Ausserdem hat er, was in dieser Zeit Profis beim FCB betrifft, keinen exzessiven Gebrauch von Schmerzmitteln beobachtet: «Ich habe nicht das Gefühl, dass mehr geschluckt wird. Ein Spieler kann sich auch nicht einfach bedienen. Wenn er Schmerzen hat, bekommt er in einem überschaubaren, kurzfristigen Zeitraum etwas. Aber nicht prophylaktisch.» Er verweist auf regelmässige Untersuchungen des Blutbildes der Spieler: «Es würde auffallen, wenn es überborden würde.»

Marti, der 18 Trainer auf der Bank beim FCB erlebt hat, nimmt die junge Generation als sensibilisiert wahr: «Sie fragen oft: Darf ich dies oder das nehmen.» Unter Druck gesetzt fühlte sich Marti nie. «Den Druck habe ich mir selbst gemacht. Die Behandlung eines verletzten Spielers beginnt sofort und nicht erst am nächsten Tag.» Und mit Heiko Vogel erlebt er einen aktuellen Chefcoach, der verständnisvoll sei: «Er kann sich ins Medizinische hineinversetzen.»

«Doping im Fussball bringt nix –
das Zeug muss in die Spieler rein.»

Die Quittung für den Raubbau am Körper gibt es später. «Erst wenn du aufhörst, merkst du, wo es überall wehtut», sagt Ivan Ergic und findet sich in Wildor Hollmann wieder, der einst feststellte: «Hochleistungssport ist der kürzeste Weg zum Frührentnertum.» Was der renommierte deutsche Sportmediziner auch noch sagte: «Leistungssport ist das grösste biologische Experiment der Menschheitsgeschichte.» Deshalb ist es lächerlich anzunehmen, dass ausgerechnet die Sportart, die weltweit die grösste Anziehungskraft besitzt und das meiste Geld umsetzt, eine weitgehend dopingfreie Zone sein soll.

Die heile Welt der Fussballer

Fussballer weichen dem gerne aus. Doping mache keine besseren Fussballer sagen sie, und blenden dabei die immer grösser gewordenen Anforderungen in puncto Athletik und Ausdauer aus. Ein paar flotte Sprüche sind überliefert (Otto Rehhagel: «Wozu braucht meine Mannschaft Doping? Sie hat ja mich»), und der Volksmund witzelt: «Doping im Fussball bringt nix – das Zeug muss in die Spieler rein.»

Ungeniert reklamieren die Protagonisten eine heile Welt für sich. «Im Fussball wird nicht gedopt», sagte der als so klug und fesch gefeierte Dortmunder Meistertrainer Jürgen Klopp vor drei Jahren kategorisch, und Matthias Sammer empörte sich 2011 im Deutschlandfunk geradezu: «Völliger Nonsens, es ist völlig absurd – Doping spielt da, wo ich mich auskenne, und das ist in nicht ganz wenigen Bereichen, keine Rolle.» Der Mann ist Direktor beim weltgrössten Fachverband, dem Deutschen Fussballbund.

Geringe Zahl an Kontrollen in der Schweiz

Matthias Kamber hat da eine ganz andere Haltung: «Aus meiner Sicht kann Doping in jeder Sportart etwas bringen. Vor allem bei der Regeneration. Heute werden Anabolika oder Epo in viel kleineren Dosen verwendet als früher, um in erster Linie die Regeneration zu fördern», sagt der Direktor von Antidoping Schweiz, «jede Sportart, in der es um viel Geld geht und die eine hohe Trainingsdichte aufweist, ist gefährdet. Deswegen machen wir auch Kontrollen ausserhalb der Wettkämpfe.»

In der Schweiz ist die Zahl der Kontrollen im Fussball allerdings gering. 2011 wurden gerade einmal 77 Urinproben genommen; 36 während Wettkämpfen, 41 ausserhalb von Wettkämpfen. Blutproben gab es keine einzige, weil der Fussball auf der Prioritätenliste der doping-gefährdeten Sportarten nicht weit oben rangiert. Hier liegt der Schwerpunkt bei Ausdauersportarten wie Triathlon oder Langlauf, und schon in diesen Risikosparten agiert Antidoping Schweiz bei den Blutkontrollen an den Kapazitätsgrenzen.

«Die Grenzen zwischen massvollem Gebrauch
und Missbrauch sind fliessend.»

Doch auch wenn die Fifa nun Alarm schlägt: Wie soll sich der Sport, der sich nicht ernsthafter mit Doping auseinandersetzen will, nun auch noch mit den Risiken und Nebenwirkungen von Schmerzmitteln beschäftigen?

«Der Aufruf der Fifa ist wichtig. Aber ich würde für die Schweiz nicht dramatisieren: Ich bin überzeugt, dass wir in der Schweiz sehr verantwortungsvolle Sportmediziner haben», glaubt Matthias Kamber. Seit 2002 steht in der Standesordnung der Ärztevereinigung FMH explizit, dass sich die Mitglieder verpflichten, bei der Betreuung von Sportlern alles zu tun, um Doping zu verhindern und keine unnötigen Gesundheitsrisiken einzugehen.

Kalbsfilet im Schuh

Der mehr oder weniger unkontrollierte Schmerzmittelkonsum ist in der Schweiz auch für den leistungsorientierten Breitensport dokumentiert. In einem Artikel für die Schweizerische Gesellschaft für Sportmedizin wurde im Oktober vergangenen Jahres aus­serdem festgehalten: «Die Grenze zwischen einem massvollen Gebrauch von Supplementen und Medikamenten und deren Missbrauch bis hin zum bewussten Doping sind fliessend.» Eine Erhebung beim Bonn-Marathon 2009 ergab ein ganz ähnliches Bild wie die Studie der Fifa: 62 Prozent von 1024 befragten Teilnehmern gaben an, bereits vor dem Startschuss ein Schmerzmittel eingeworfen zu haben.

Wogegen sich Benjamin Huggel stets gewehrt hat, ist das sogenannte «Fit­spritzen», bei dem ein schmerzabtötendes Präparat in die verletzte Körperstelle injiziert wird. Vor einem Spiel mit dem FCB zu Zeiten auf der Schützenmatte machte Huggel eine Prellung auf dem Rist zu schaffen. Er erhielt einen guten Rat, und die Alternativtherapie erzielte den gewünschten, schmerzdämmenden Effekt: Huggel packte sich ein dünnes Kalbsfilet in den Kickschuh.

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Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

Auf Zeit-online zum Thema zwei weitere Beiträge, ein Interview mit Fifa-Chefarzt Jiri Dvorak sowie und ein Hintergrundbericht zu den Lücken im Kontrollsystem.

Mehr zum Thema unter anderem auf fussballdoping.de

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