Marco Wölfli nimmt keine Rücksicht. Er steigt in der Kabine der Young Boys aus dem Pool, füllt einen Eimer voll Wasser, so gross wie eine Basler Fasnachtstrommel, und schüttet den Inhalt in Richtung der Medienschaffenden. Und gleich noch einen hinterher. Es gibt an diesem Abend kein Mass mehr. Für gar nichts.
Viele müssen in diesem Moment der Euphorie Deckung suchen, die Mobiltelefone und Laptops und Kameras, mit denen das alles festgehalten werden will, sind ernsthaft in Gefahr.
Den Goalie des BSC Young Boys, ausgestattet mit einer gelbschwarzen Uhr und einer gelbschwarzen Sonnenbrille, interessiert das freilich nicht. Wölfli ist seit gut einer Stunde Schweizer Meister, zum ersten Mal überhaupt hat er einen Titel gewonnen in seiner Karriere, in der er doch eigentlich zur Personifizierung des Berner Misserfolgs der letzten Jahre geworden ist.
Jetzt, nach diesem Abend und dem Sieg gegen Luzern, bei dem er mit seiner Penaltyparade den Weg zum Triumph ebnete, ist Wölfli endgültig zum Berner Helden geworden. Oder wie der junge Mann von Radio Gelbschwarz bei der Präsentation der Meistermannschaft 2018 später sagen sollte: «Er ist eine fucking Legende!»
Ein Blumentopf mit Gold überzogen dient als Meisterpokal
Längst steht die Kabine der Berner unter Wasser, Champagner und Bier. Beim Spind von Steve von Bergen, dem in die Jahre gekommenen Captain, der eine fabelhafte Saison spielt, steht eine grosse, goldene Schale. Vielleicht ein Symbol für den Meistertitel, der schon so lange in der Luft liegt und in der 32. Runde Tatsache wurde. Kevin Mbabu, der Aussenverteidiger, schmückt sich inmitten seiner durchnässten Mitspieler mit einem anderen Symbol: Er trägt eine Imitation des Meisterpokals verkehrt herum auf dem Kopf, gebastelt aus einem Blumentopf aus Plastik, umhüllt mit goldener Folie.
Tanzchoreographien wechseln sich ab mit dem Spiel der Muskeln, die einige der Berner Meisterfussballer oben ohne und mit aufgesetzten Skibrillen zum Besten geben. Typisches Gebaren von Männern eben, die in diesem Moment endorphindurchflutet ihren Emotionen freien Lauf lassen. Der Duft von Alkohol liegt in der Luft, Zigarettenrauch mischt sich in das olfaktorische Erlebnis, und Chlor vom Pool, den die Spieler irgendwann zusammen mit Wölfli verlassen.
Dann, nach Wölflis Wasserangriff auf die Presse, wird es ruhig. Ein Mann betritt die in Gelbschwarz gehaltene Kabine. Und auf ihn hören alle, ihm hängen alle an den Lippen, als er zu einem Monolog ansetzt.
Es ist Hans-Ueli Rihs. Zehn Tage zuvor hat der YB-Investor seinen Bruder Andy verloren, den anderen Investor. Hans-Ueli Rihs wendet sich an die Mannschaft und sagt: «Was ihr geschafft habt, berührt mich». Er habe in den letzten Tagen seines Bruders immer wieder mit ihm über die Young Boys geredet: «Andy durfte mit der Erkenntnis einschlafen, dass wir dieses Jahr Meister werden.»
Stürmer Guillaume Hoarau küsst den 73-Jährigen auf die Wange. Und die Mannschaft begann den Investor nach dessen emotionaler Rede zu feiern.
Die Berner haben den Titel erstmals seit 32 Jahren gewonnen. Weil Jean-Pierre Nsamé in der 90. Minute den notwendigen Sieg mit dem Tor zum 2:1 sicherte. YB ist erst der dritte Meister in der Super League, seit die Liga in dieser Form 2003 geschaffen wurde. YB löst Basel nach acht Titeln in Serie ab.
Wie das Gros der 31’200 Zuschauer nach diesem sporthistorischen Ereignis den Rasen stürmte, gab ein Bild ab, das in Basel in den letzten Jahren nicht mehr denkbar war. Weil sich am Rhein eine gewisse Erfolgssättigung eingestellt hatte und die Feierlichkeiten, die Fussballbern jetzt entdeckt, zur Gewohnheit geworden waren.
Darauf hat Bern 32 Jahre lang gewartet. Herzliche Gratulation @BSC_YB zum Meistertitel. #BSCYBpic.twitter.com/oSlCBhBpPx— Lukas Ninck (@LukasNinck) April 28, 2018
In Bern mussten die Sicherheitskräfte alles aufbieten, damit die Absperrungen zwischen den Fans und der Mannschaft nicht weggedrückt wurden. Die Feier im Stadion blieb aber ohne gröbere Zwischenfälle.
Nur der Stadionsprecher war besorgt und bat die Fans immer und immer wieder, mit der Unterlage vorsichtig umzugehen: «Wir haben hier noch einen Cupfinal zu spielen!» YB winkt am 27. Mai im Final gegen den FC Zürich der zweite Titel dieser Saison.
Emotionaler können die Geschehnisse dann kaum verlaufen. Dafür war die Dramaturgie an diesem Samstagabend zu kitschig: Luzern war in Führung gegangen, YB glich per Elfmeter durch Guillaume Hoarau aus. Dann hielt Wölfli einen Elfmeter und schliesslich fiel der Siegtreffer Sekunden vor dem Abpfiff. Wölflis Mitspieler Leonardo Bertone sagt mit dem Übermut des Siegers: «Er ist der beste Goalie auf der ganzen Welt.»
Wölflis Chef Adi Hütter, der im Stadion mit grossen Plakaten zum «Trainergott» erhoben wurde, sagt zum Moment des Abpfiffs: «Ich weiss nicht mehr, wohin ich gerannt bin. Es ist einfach wahnsinnig, wenn der Gaul mit einem durchgeht. Wir haben eine riesen Geschichte geschrieben.»
Erstmals hat der Österreicher ausserhalb seines Heimatlandes einen Titel gewonnen. während Spieler Loris Benito, der einst Meister in Portugal war, die Meisterpremiere in seinem Heimatland feiert: «Ich habe meinen Freunden und meiner Familie gesagt, dass sie mich in den nächsten vier Tagen nicht suchen sollen. Ich weiss nicht, wo ich sein werde.»
Benito war in der Rückrunde kaum mehr wegzudenken. Genauso wenig wie Hoarau, der inzwischen mit 14 Treffern an der Spitze der Torschützenliste steht. Der Franzose sagt nach dem Titelgewinn in gebrochenem Deutsch: «Ich bin tot, aber unglaublich stolz. Ich liebe einfach dieses Spiel.» Es sind die einzigen Worte, die zu verstehen sind in der lauten Atmosphäre auf dem Feld, wo sich irgendwann einige Fans zur Mannschaft durchgekämpft haben und geregelte Interviews unmöglich sind.
Nur Christoph Spycher lassen die Fans in Ruhe sprechen. Der 40-Jährige, noch keine zwei Jahre Sportchef bei YB und damit in dieser Funktion nur wenig erfahrener als Basels Sportchef Marco Streller, sagt mit der Ruhe, die ihm eigen ist: «32 Jahre habt ihr alle auf diesen Titel gewartet. Und jetzt habt ihr das bekommen, was ihr alle verdient. Macht die Nacht zum Tag.»
Bis um Mitternacht waren die meisten Fans in der Stadt angekommen. Einige von ihnen bestritten den Weg dahin zu Fuss, überholt wurden sie von einem Feuerwehrfahrzeug, das die Sirene einschaltete und über ein Megafon die Menge mit «Hopp YB» beschallte. Eine kleine Fussgängergruppe hatte einen Torpfosten aus dem Stade de Suisse mitgehen lassen, trug diesen und bot so einem Betrunkenen stützenden Halt.
Andere waren mit dem Tram unterwegs in Richtung Stadtzentrum. Eines war derart vollgestopft, dass es einer jungen Frau vor Angst die Tränen in die Augen trieb. Eine Station nach dem Stadion verschaffte sich ein Mann mit Nachdruck Zugang zum Tram, was in einer kleinen Schlägerei mündete und eine blutige Nase zur Folge hatte.
Für Aufheiterung sorgte in diesem Moment der legendäre Basler Schnitzelbank der Anggebliemli von 1973: «Drämmli uff di wart y nämmli», sang eine kleine Gruppe YB-Fans in Basler Dialekt – zu Ehren des FC Basel, dem Unterlegenen in diesem Meisterrennen.
Auch das waren Szenen einer Nacht, die nichts als Freude in die Bundesstadt trug.
Zur Sicherheit mal die königliche Hochzeit ankündigen
An mehreren Orten in der Stadt bildeten sich feiernde Gruppen. Eine eigentliche Meisterfeier mit einem einzigen Hotspot, wie das in Basel der Barfüsserplatz ist, gab es aber zumindest bis um Mitternacht nicht. Und was in dieser Nacht alles passieren sollte, wussten viele Menschen noch immer nicht.
Die Stadt hatte im Vorfeld nichts geplant, aber eine Freinacht bewilligt. Bern kennt solche zwar von den Titeln der Eishockeyaner des SC Bern. Aber was das im Falle eines Fussballtitels heisst, weiss die Stadt nach drei Jahrzehnten ausbleibenden Erfolgs nicht mehr. Zumindest sagten das verschiedene Betreiber von Gastronomiebetrieben in der Innerstadt.
Eine Barchefin, eingekleidet mit dem vom Bruder ausgeliehenen Trikot des einstigen YB-Stürmers und aktuellen Chefscouts Stephane Chapuisat, hatte keine Ahnung, wie viele Gäste sie erwarten solle. Aber vielleicht ist ihre Bar ohnehin nicht der richtige Ort für Fussballfeierlichkeiten, kündigt das Lokal doch schon jetzt an, am 19. Mai die königliche Hochzeit zwischen dem englischen Prinzen Harry und seiner Verlobten Meghan Markle live zu übertragen.
Naturschauspiele und die verbannte Ruhe
Da bietet sich die Kleine Schanze eher an, dieser Gastronomiebetrieb mit Aussenbereich ganz in der Nähe des Bundeshauses. Der Wirt glaubte am Nachmittag zwar noch nicht, dass viele Fans sein Lokal aufsuchen würden. Nur wissen konnte er es nicht, schliesslich ist so nahe an der Bundesterrasse doch alles möglich, wenn man dem Berner Chansonnier Mani Matter und seinem Lied «Dynamit» Glauben schenken will.
Von der Bundesterrasse aus waren am Nachmittag bei bestem Wetter die Berner Alpen zu sehen, mit der Jungfrau als prominenter Spitze. Wenige Meter unter der Terrasse fliesst die Aare hindurch, dieses Berner Wahrzeichen, dessen Meander der Stadt ihr spezielles landschaftliches Bild verleiht. Beide Naturschauspiele strahlten Stunden vor dem Titelgewinn eine Ruhe aus, die in Bern an diesem Abend aus der Stadt verbannt wurde.