Sein Vater schickte ihn mit zehn Jahren in die Nachwuchs-Akademie des FC Nantes, um ihn raus aus der Banlieue zu wissen. Heute steht Giovanni Sio vor seinem ersten Spiel in der Champions League. Zu behaupten, seine Karriere sei in der Zwischenzeit geradlinig verlaufen, wäre gelogen.
Irgendwie muss es zwei von ihnen geben. Zwei Giovanni Sio. Einen, der richtig gut Fussball spielt, der schnell ist, wendig, mit viel Zug zum Tor – und der nicht zweimal überlegt, wenn er vor dem Goalie steht, sondern den Ball einfach ins Netz schiesst. Einer, der offen ist, sofort bereit, über sich und die eigene Geschichte zu sprechen. Wann? Jetzt? Klar. Und sich dann hinsetzt am Flughafen Basel-Mulhouse, in einem dieser tristen Gänge zwischen Duty Free und Passkontrolle.
Und dann ist da noch ein anderer Giovanni Sio. Einer, der leidet, wenn er keinen Anschluss an seine Teamkameraden findet. Einer, der an Sprachbarrieren scheitert und der dann irgendwo in einem Loch versinken muss, das so tief ist, dass die Trainer, die Sportdirektoren, die Assistenztrainer ihn und seine Qualitäten gar nicht mehr sehen können.
Anders ist es fast nicht zu erklären, dass Sio heute mit dem FC Basel in London beim Chelsea FC in das grosse Abenteuer Champions League startet. «Jeden Tag, an dem ich ihn im Training sehe, frage ich mich, warum er in Wolfsburg nicht gespielt hat», wundert sich Marco Streller. Und dem Basler Captain darf nach drei Jahren in Deutschland durchaus zugetraut werden, dass er sieht, ob jemand die Fähigkeiten mitbringt in der Bundesliga zu bestehen.
Sio sprang, aber er hob nicht ab
Als Sio in Sion zur Attraktion wurde und Tore schoss, 18 in 52 Spielen waren es am Ende, da erschien im November 2010 im «Le Matin Dimanche» eine grosse Story über Sio. Das heisst, eigentlich nur über seinen Salto – der ist sein Markenzeichen, auch wenn er ihn im Dress des FCB erst einmal gezeigt hat, fast unbemerkt auswärts in Luzern.
8000 Zeichen widmete die Zeitung dem Rad mit folgendem Rückwärtssalto. Der FC Sion druckte ein Bild des fliegenden Sio auf seine Saisonkarten. Es schien nur eine Frage der Zeit, dass die Karriere des Offensivmannes im gleichen Stil abheben würde, wie er bei seiner akrobatischen Einlage.
Und tatsächlich: Der VfL Wolfsburg verpflichtete den damals 22-Jährigen. Für kolportierte 7,2 Millionen Schweizer Franken. Aber Sio hob nicht ab. Er stolperte. Er kam kaum zu Einsätzen, wurde schliesslich nach Augsburg ausgeliehen, wo es noch tiefer ging: mit einer frühzeitigen Vertragsauflösung wegen einer roten Karte samt Stinkefinger gegen die Zuschauer.
In Deutschland lief alles schief
Irgendwie ist für Sio in Deutschland alles schief gelaufen, von Anfang an. Der Transfer? «Ich bin mit einem Agenten ins Ausland, den ich vorher nicht gekannt habe. Er hat Geld auf meinem Buckel verdient und sich danach nie mehr gemeldet, als ich Probleme hatte.» Die neuen Teamkollegen? «Sie waren hart zu mir, haben mich nicht ernst genommen. Vielleicht, weil ich aus der kleinen Schweizer Liga gekommen bin.» Und die Sprache erst! «Ich hatte keine Basis, konnte nur Französisch und Spanisch. Es war eine schwere Zeit.»
Es war nicht das erste Mal, dass Sios Karriere einen Salto mortale schlug. Bereits mit 18 Jahren hätte der Traum vom Profifussball beendet sein können. Damals, als er einen Vertrag des FC Nantes ausschlug, bei dem er die Nachwuchsabteilung durchlaufen hatte: «Ich war mit dem Angebot nicht zufrieden.»
Der Rat des Weltmeisters
Stattdessen ging er nach Spanien zu Real Sociedad, verbrachte dort zwei Jahre, ohne wirklich in die erste Mannschaft zu gelangen. Danach war sein Vertrag ausgelaufen – und Sio ohne wirkliche Perspektive. Bis ihn Christian Karembeu zum FC Sion brachte. Der Weltmeister von 1998 hatte offenbar aus den Zeiten im Nachwuchs von Nantes jenen Sio in Erinnerung, der nicht irgendwo in einem Loch verschwunden war, er glaubte an die Fähigkeiten des Linksfusses.
So etwas ähnliches wie sein «Berater» sei Karembeu gewesen, nicht sein Agent, sagt Sio heute: «Ich hatte ihn nicht häufig am Telefon. Aber wenn, dann hat er sich um mich gekümmert. Ich bin ihm dankbar, er hat etwas in mir gesehen.»
Bei Sion musste sich Sio erst beweisen, durfte nicht gleich in die Profimannschaft, sondern hatte sein Talent im Nachwuchs zu zeigen. Aber das machte ihm nichts aus: «Wenn du im Fussball keine Höhen und Tiefen erlebst, dann stimmt etwas nicht. Um stärker zu werden, musst du Widerstände überwinden.»
Raus aus der Banlieue
Gedanken, dass er es nicht schaffen könnte als Fussballprofi, will er nicht gehabt haben. «Ich weiss nicht, was ich wäre, wenn nicht Fussballer», sagt er. Was ganz sicher mit seiner Kindheit zu tun hat: Bereits als Zehnjähriger wurde er von seinem Vater ins Wohnheim der Nachwuchsabteilung des FC Nantes geschickt.
Nicht, weil der unbedingt einen Fussballprofi als Sohn haben wollte. Gut, das vielleicht auch. Aber der Vater, eingewandert von der Elfenbeinküste, wollte den jüngsten seiner vier Söhne raus haben aus dem Quartier Bellevue in Nantes, das seinem Namen so überhaupt nicht gerecht wird. Weg von dieser Banlieue, die Giovanni Sio als «harte Umgebung» beschreibt: «Es gab viel Kriminalität. Einige meiner ehemaligen Kollegen sind deswegen sogar gestorben.»
Aus der Zeit beim Nachwuchs von Nantes zog Sio Kraft, wenn die Karriere wieder einmal ins Stocken geriet: «Als ich Junior war, haben mir viele Leute gesagt, dass ich vorwärts kommen werde, wenn ich an mir arbeite, weil ich viele gute Anlagen habe. Daran habe ich gedacht, wenn ich Probleme hatte.»
Plötzlich geht ganz viel in Erfüllung
Und jetzt, jetzt steht Giovanni Sio vor seinem ersten Auftritt in der Champions League. Ein «Bubentraum» ist das für ihn, wie wohl für alle, die auf diesem Planeten Fussball spielen. Doch für ihn geht er in Erfüllung. Wie überhaupt nach zwei Jahren Stillstand plötzlich sehr viel in Erfüllung zu gehen scheint, stellt Sio fest: «Ich wollte in die A-Nationalmannschaft der Elfenbeinküste. Das habe ich geschafft. Ich wollte in die Champions League. Das habe ich auch geschafft.»
Wundert er sich da, hält er kurz inne? Nein. Sio hat weitere Pläne, grosse Pläne. Sie sprudeln richtiggehend aus ihm heraus: «Ich will mich für die Weltmeisterschaft qualifizieren, ich will den Schweizer Meistertitel gewinnen, den Cup, ich will so viele Spiele in der Champions League absolvieren wie möglich, ich will Torschützenkönig der Super League werden.»
Als alles raus ist, wirkt er kurz fast ein wenig verlegen. «Aber gut, das sind halt einfach meine Ziele», sagt er mit einem Lächeln. Steht auf. Und geht zur Passkontrolle in Richtung Champions League.