Die Ukraine will eine besser organisierte EM abliefern als die Schweiz 2008. Wo all die öffentlichen Gelder hin sind, weiss aber niemand.
Das Büro von Markiyan Lubkivskiy bietet einen grandiosen Ausblick auf Kiew. Stolz zeigt der Turnierdirektor der ukrainischen Hälfte der Euro 2012 auf seine Stadt. Von hier oben, einem hellen Raum im 21. Stock des höchsten Gebäudes des Landes, sieht die Welt bestens sortiert aus.
Unten leuchtet das nagelneue EM-Stadion in der Sonne, im Hintergrund strahlen die Goldkuppeln der Kirchen. Eine U-Bahn-Station weiter zieht sich die Chreschtschatyk, Kiews Prachtstrasse, hinunter zu den Ufern des mächtigen Djnepr. Es braucht nicht viel, sich vorzustellen, dass hier prächtige Fussballfeste gefeiert werden, wenn im Sommer Europa zu Gast sein wird.
Das ukrainische Nationalteam mag zwar fussballerische Schwächen haben und Andrij Schewtschenko mitschleppen, den Superstar des vergangenen Jahrzehnts, der im Hochgeschwindigkeitsfussball der Gegenwart eher Nach- denn Vorteil sein könnte. Aber Nationaltrainer Oleg Blochin, in den 70ern einer der besten Spieler der Sowjetunion, hat trotzdem grosse Ziele ausgerufen: «Die Hauptaufgabe für die Mannschaft ist der Gewinn des Titels.»
Besserer Service als in der Schweiz?
Und Turnierdirektor Lubkivskiy schwärmt. «Wir versuchen, eine bessere Organisation als bei der Europameisterschaft vor vier Jahren in Österreich und der Schweiz hinzube-kommen», sagt er und verkündet mit viel Überzeugungskraft in der Stimme: «Der Service für die Besucher wird sogar hochwertiger.»
Das hört sich toll an, Lubkivskiy ist ein Verkäufer, das gehört zu seinem Job. Aber je tiefer er am Konferenztisch seines Büros in Details des Turniers eintaucht, desto schwerer fällt es ihm, sein Land als Gastgeber der Euro mit seriösen Argumenten zu verteidigen. Er preist die Bedeutung der Euro im ukrainischen Modernisierungs- und Demokratisierungsprozess: «Für mich ist das keine Sportveranstaltung, sondern ein geopolitisches Event.» Die Uefa bringe «mit diesem Turnier europäische Werte in die Ukraine». Spätestens jetzt kann man ihm nicht mehr glauben. Denn die politische Realität in Kiew erzählt eine ganz andere Geschichte, man muss nur hinuntergehen auf die Stras-se, um das zu sehen.
Zwei Uhren für die Gegensätze
Es gibt zwei Uhren in Kiew, die den Gegensatz zwischen EM-Vorfreude und den Abgründen der jungen Nation illustrieren. Die eine zählt rückwärts bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels, die andere nimmt die Zeit seit der Inhaftierung von Julija Timoschenko. Nach einem offenkundig politisch motivierten Prozess wird die gesundheitlich angeschlagene Oppositionsführerin gefangen gehalten, und das ist nur das sichtbarste Indiz dafür, dass die Ukraine sich unter dem Staatschef Viktor Janukowitsch von Europa abwendet. Und sich rasant den Zuständen der menschenverachtenden Diktatur in Weissrussland nähert, wie Beobachter sagen. «Die EM ist längst zum Ärgernis für die ukrainische Regierung geworden», heisst es unter ukrainischen Journalisten, denn bis zum Abpfiff des Finales am 1. Juli steht das Land unter besonderer Beobachtung.
Die Zeitungen Westeuropas erzählen von Geschichten über Korruption, organisierte Kriminalität, Geschäfte der Pharmaindustrie mit Leichenteilen und die zahllosen Menschenrechtsverletzungen, die der Ukraine vorgeworfen werden. «Den Handelnden beim Deutschen Fussball-Bund und bei der Uefa muss klar sein, dass Herrn Janukowitsch keine Bühne gegeben werden darf. Er darf aus diesem Ereignis keine Legitimation schöpfen für die Unterdrückung der Opposition», sagt der CDU-Europa-Abgeordnete Elmar Brok.
Wie verhält sich der Westen?
Es wird spannend, wie der Westen und seine Staatsmänner und -frauen mit der heiklen Mischung aus Fussballspass und politischer Verantwortung umgehen werden. Janukowitsch wird der Zeit nachtrauern, als die Kritik sich auf die organisierte Tötung der Strassenhunde von Kiew und Verzögerungen beim Stadionbau beschränkte.
Nur der europäische Kontinentalverband begegnet den politischen Verhältnissen beharrlich mit einer schwer erträglichen Ignoranz. «Die Uefa ist keine politische Institution und wird nie eine sein. Dafür ist eine EM immer ein grosses europäisches Festival, das Kontakte, den Austausch und Diskussionen auf allen Ebenen fördert», lautet die Standardverteidigung von Verbandschef Michel Platini. Die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» will erfahren haben, dass die Uefa teilnehmende Mitgliedsverbände dazu aufgefordert hat, «diese Haltung zu übernehmen». Das wäre dann eine politische Einmischung, eine ziemlich unverfrorene sogar.
Die Mafia soll TUI erpressen
Dass Platini sich während der Turnierwochen auf diese Weise herausreden kann, ist allerdings unwahrscheinlich. Denn die EM bietet eine grosse Bühne für jene Kräfte, die die Zustände anprangern. Seit Wochen kursieren Geschichten über Studenten, die gezwungen werden, ihre Wohnheime zu räumen, damit diese an Fans vermietet werden können.
Auch der Reiseveranstalter TUI sei Opfer der ukrainischen Mafia geworden, berichtet «Spiegel online». In Kiew habe die berüchtigte Luschniki-Bande vor wenigen Wochen das Hotel «Slawutitsch» gestürmt, Angestellte und Gäste verprügelt und das Haus in Besitz genommen. Eigentlich gibt es einen Vertrag der Hotelbetreiber mit TUI, die die 400 Betten während der EM vermieten sollte, doch die Kriminellen haben den Vertrag angeblich gekündigt und die Preise verdoppelt. Der deutsche Reiseveranstalter zögere mit einer Klage, weil das Vertrauen in die ukrainische Justiz fehle. Die Gerichte folgen in der Ukraine den Kräften der Macht und nicht den Gesetzen.
Weltmeister gegen Korruption
Auch Boxweltmeister Vitali Klitschko, inzwischen Vorsitzender der Oppositionspartei Udar, kennt dieses Problem. Veränderungen in seinem Land seien unmöglich, «wenn wir nicht zuvor den Kampf gegen die Korruption» gewinnen, sagt er. Korruption ist das Geschwür, das das Land und damit auch das Turnier durchdrungen hat. Kein Wunder, fühlen sich viele Ukrainer im Vorfeld der Euro betrogen.
Insgesamt sind rund neun Milliarden Euro öffentlicher Gelder in die Europameisterschaftsvorbereitung geflossen, fast dreimal so viel wie die öffentlichen Investitionen der Südafrikaner in ihre WM vor zwei Jahren. Dabei stehen in der Ukraine nur vier EM-Stadien, von denen zwei auch noch von den Oligarchen Rinat Achmetow (Donezk) und Alexander Jaroslawski (Charkow) finanziert wurden.
Die Flughäfen in den Spielorten wurden modernisiert, doch die neuen Metrostationen sucht man vergeblich. Und der geplante Ausbau des Strassennetzes ist nur in Fragmenten realisiert worden. Wo ist das ganze Geld geblieben? «Das kann ich nicht kommentieren», meint Turnier-direktor Lubkivskiy in seinem schicken Büro über der Stadt nur. Was soll er auch sagen?
Die Besitzverhältnisse verlieren sich zwischen Zypern und den Virgin Islands
Einige der «lukrativsten Aufträge gingen an das Geflecht der grossen ukrainischen Firmengruppen, deren Besitzverhältnisse sich bisweilen irgendwo zwischen Zypern, Belize und den Virgin Islands verlieren», schreibt die «Süddeutsche Zeitung». Und laut der ukrainischen Zeitung «Prawda» hat der aus Donezk stammende Vize-Premierminister Boris Kolesnikow einem Unternehmen Aufträge zugeschustert, an dem er selbst beteiligt ist.
Dass sich durch die EM etwas ändert, dass das Land demokratischer wird, das ist angesichts dieser Verstrickungen der Führungselite in zweifelhafte Machenschaften in den Augen vieler Ukrainer so gut wie ausgeschlossen. Die Regierungsmitglieder würden unmittelbar «nach einer Abwahl oder einem Sturz selbst ins Gefängnis wandern», sagt eine Journalistin. Deshalb werde ihr Führer Janukowitsch demokratische Strömungen und jede andere Kraft, die ihm gefährlich werden kann, mit eiserner Konsequenz bekämpfen.
Grosse Bälle, grosse Pläne, grosse Hüte. Olympiastadion in Kiew, Turnierdirektor Markiyan Lubkivskiy, Musiker der ukrainischen Grenzwache am Flughafen Borispol.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.04.12