Costa Rica rechnete für diese WM kaum jemand Chancen aus. Jetzt steht die Mannschaft im Viertelfinal, ein Fussballmärchen. Doch dahinter steckt harte Arbeit. Dahinter steckt Jorge Luis Pinto.
Unter der Woche besuchten die Spieler das neue Pelé-Museum in Santos, derweil aus der Heimat immer neue Nachrichten eintrafen über ein Land im Ausnahmezustand. Wie die von dem Pfarrer, der die Kirchenglocken am Sonntag für das Spiel gegen Griechenland im roten Nationaltrikot läutete oder von der Ziehung der Lottozahlen, die aus demselben Grund auf Montag verschoben wurde. Auch bat Staatspräsident Luis Guillermo Solís seine Bürger, sich «nicht allzu sehr zu verschulden» beim Kauf von neuen Fernsehern oder eben Devotionalien, die allerdings gar nicht so leicht zu bekommen sind. Die Nachfrage sei um das 20-fache gestiegen, sagen sie beim Ausrüster Lotto.
Aber damit konnte ja auch keiner rechnen. Als die Bank Goldman Sachs vor dem Turnier auf statistischer Basis die Chancen aller 32 Teams berechnete, landete Costa Rica auf dem letzten Platz – mit einer Titelwahrscheinlichkeit von 0,0 Prozent. Die Wettbüros führten die Mittelamerikaner mit einer Quote von eins zu 4000. Nun spielen sie nach Siegen über Uruguay und Italien und dem Elfmeterdrama gegen Griechenland heute ein Viertelfinale gegen die Niederlande. Die Quote liegt nur noch bei eins zu 33.
Es ist ein Märchen. Doch dahinter steckt harte Arbeit. Dahinter steckt Jorge Luis Pinto.
Streitereien in der Radioshow
Der Trainer hat in akribischen Forschungen sein 5-3-2-System ausgetüftelt und die Spieler immer und immer wieder ihre Bewegungen synchronisieren lassen. Für den 61- jährigen Kolumbianer ist der Fußball quasi eine Wissenschaft. Jedenfalls keine Materie, über die jedermann einfach so daherschwafeln könnte, wie er überdeutlich machte, als er sich vorigen Herbst live in eine costaricanische Radioshow schalten ließ. Ein anderer Anrufer hatte sich dort einen Tag nach der geschafften WM-Qualifikation über den vermeintlich defensiven und unbeständigen Fußball der Elf beschwert.
«Erklären Sie mir auf Spanisch, was Ihre Meinung nach Beständigkeit ist», zeterte der Nationaltrainer. «Wenn diese Mannschaft irgendetwas ist, dann beständig. Was für eine Ignoranz. Das ist als ob ich von Medizin oder Chemie reden würde, ohne davon irgendetwas zu verstehen.» Der Hörer beschwerte sich: «Er hat mich ignorant genannt» – «Vollkommen ignorant!», bellte Pinto zurück.
Nach knapp 20 Minuten Argumentationsaustausch («Eine Schande!»; «Der soll erstmal Spanisch lernen») beendete Pinto die Standup-Schalte mit der Bitte an die Moderatoren, «dem Land zu sagen, dass ich den Mumm hatte, hier anzurufen und diesem Herrn mitzuteilen, dass er respektlos mit der Nationalmannschaft Costa Ricas umgeht.»
Eine Schwäche für Castro, Aberglaube und Taktik
Mit Leuten, die er akzeptiert, kann der 1,65 Meter kleine General auch anders. Am Mittwoch wurde er bei Diego Maradonas WM-Late-Night «De zurda» interviewt. Ausgesprochen höflich dankte er der Legende für «alles, was Du für den Fußball getan hast». Man versteht sich. Mit Maradona verbindet Pinto eine Schwäche für Fidel Castro, und auch in punkto Schrullen machen sie sich nicht viel vor.
Sind Schuhe nicht akkurat nebeneinander aufgestellt, sieht er Unglück heraufziehen. Bei Auswärtsspielen trägt er prinzipiell gelbes Jackett mit Jeans, und bei der WM hat er seinen grauen Anzug mit roter Krawatte ebenso wenig gewechselt, wie sein Team in weiß (statt dem üblichen rot) spielen muss, seit damit gegen Uruguay das Auftaktspiel gewonnen wurde.
Vor allem aber verehrt er die Taktik. Für seine Homepage verfasst er lange Traktate über das Spiel; da kommt dann sein Studium als Sportlehrer durch. Pinto wollte immer schon Fußballtrainer werden, weil er keine Spielerkarriere vorweisen konnte, näherte er sich von der akademischen Seite. 1977 verbrachte er mit einem DAAD-Stipendium auch einige Zeit in Deutschland. Sein strategischer Fixstern jedoch ist Italien. Mit dem weitgehenden Fehlen von Bescheidenheit, das ihn ebenfalls auszeichnet, sagte er dieser Tage, er habe die Italiener in den letzten Jahrzehnten genauestens studiert. Aber seine Elf habe deren Fußball weiter entwickelt. «Solche taktischen Bewegungen (wie von uns) habe ich bei acht Weltmeisterschaften noch nicht gesehen.»
Nach Costa Rica kam Pinto 2002. Zwei Jahre später übernahm er die «selección», wurde aber während der Qualifikation zur WM 2006 aus bis heute unklaren Gründen gefeuert. Nach mehreren Stationen in Kolumbien, darunter ebenfalls die Nationalmannschaft, Venezuela und Ecuador kam er 2011 zurück, dabei immer den Leitsatz eines weiteren seiner Vorbilder, dem Niederländer Rinus Michels: «Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um Sozialleben zu betreiben.» Notfalls legt er sich dafür auch mit der halben Welt an. Jorge Luis Pinto ist ein stolzer Mensch. Von seiner Homepage grüsst neben seinem Namen auch sein persönliches Wappentier – es ist ein Hahn.