Winterspiele: Das waren mal ein paar Skirennen, ein paar Langlaufwettbewerbe, Skispringen, Eislaufen, Bob fahren. Heute werden 98 Goldmedaillen vergeben, mehr als jemals zuvor.
Team-Eiskunstlaufen also. Dafür kann Olympia natürlich auch schon mal einen Tag vor der Eröffnungsfeier losgehen. Der Iceberg Palace hat sich am Donnerstag allerdings nur langsam gefüllt, und so ist es ein Segen für die Veranstalter, dass es Jewgeni Pljuschtschenko gibt. Die ersten Blumensträusse dieser Spiele werden geschmissen, als der blonde Nationalheros bei seinen letzten Spielen einen starken Tango aufs Eis legt.
Die Männer und die Paare absolvierten ihr Kurzprogramm. Am Samstag kommen dann Frauen und Eistanz mit dem Kurzprogramm, sowie – damit es bloss nicht zu übersichtlich wird – die Paare aber schon mit der Kür. Und am Sonntag das Finale Furioso: Kür der Männer, der Frauen und im Eistanz. Noch ein bisschen rechnen – und schon ist wieder eine Goldmedaille vergeben.
Für wen, daran wird sich schon in einer Woche kaum noch einer erinnern. Vielleicht interessiert es auch schon jetzt keinen. Oder doch? Eine Masse an mehr oder wenig schlüssigen Wettbewerben wird sich in den nächsten zwei Wochen über die Zuschauer ergiessen, sie so umfassend mit Schnee und Eis berieseln, dass sie sich – angenehmer Nebeneffekt für das IOC – keine Gedanken mehr über Umweltzerstörung, Zwangsumsiedlung und Milliardenbauten verschwenden.
Denn es gibt ja jetzt genügend andere Fragen zu klären. Was ist noch mal Slopestyle? Wie geht die Mixed-Staffel im Biathlon? Von welcher Schanze springen die Frauen? Und sausen beim Teamrodeln etwa alle zusammen auf dem Schlitten ins Tal?
Berieselt mit Schnee und Eis – die Zuschauer werden bald keine Gedanken mehr an Umweltzerstörung, Zwangsumsiedlung und Milliardenbauten verschwenden.
Höher, schneller, weiter? Vielleicht, aber vor allem: Mehr, mehr, mehr! 98 Goldmedaillen werden in Sotschi vergeben, zwölf mehr als in Vancouver vor vier Jahren. Wie passend zu diesen gigantomanischen Winterspielen, deren Kosten die von allen bisherigen Sommerspielen – inklusive Peking – übersteigen sollen. Geschätzte 40 Milliarden Euro, dafür entstanden neben sündteuren Verkehrsverbindungen in die Berge allein im sogenannten «Küstenklumpen» fünf neue Prachtarenen.
Draussen ist es lauwarm, Stampftechno wabert über das riesige Areal, auf dem es mehr Zäune gibt als Menschen. Winterspiele: Das waren mal ein paar Skirennen, ein paar Langlaufwettbewerbe, Skispringen, Eislaufen, Bob fahren. Vor dreissig Jahren in Sarajevo wurden 39 Goldmedaillen vergeben.
Die Kreativität der Funktionäre
Winterspiele, das war mal: irgendwie romantisch. Der legendäre Langlauf von Lake Placid 1980, als der Schwede Thomas Wassberg mit Eiszapfen am Vollbart durch einen verschneiten Wald stapfte und nach 15 Kilometern eine Hundertstelsekunde schneller war als der Finne Juha Mieto.
Sein Vorschlag, die Goldmedaille zu teilen, wurde vom IOC abgelehnt, und statt den drei Distanzen 15, 30 und 50 Kilometer gibt es inzwischen: Skiathlon, Massenstart, Sprint im freien Stil, Teamsprint im klassischen Stil. Sprint im Langlauf – das klingt wie Satire auf sich selbst. Gar nicht so leicht zu sagen, ob das Doping diesen ehrwürdigen Sport mehr ruiniert hat oder die Kreativität seiner Funktionäre.
98 Goldmedaillen werden in Sotschi vergeben, zwölf mehr als in Vancouver vor vier Jahren.
Mit Bildern von verschneiten Landschaften ist es auch nicht mehr weit her, was ausnahmsweise mal weniger am Klimawandel liegt als an dem merkwürdigen Fetisch, möglichst viele Disziplinen unter Flutlicht auszutragen. Biathlon beginnt in Sotschi nicht vor 18 Uhr Ortszeit, Skispringen erst um 21.30 Uhr. Und nein, das hat nichts mit den neun Stunden Zeitverschiebung zur amerikanischen Ostküste zu tun. Genau diese beiden Sportarten haben in den USA noch nie jemanden interessiert.
Der Generationenwandel
Das IOC rechtfertigt die Verramschung von Wintertraditionen stets mit dem Generationswandel; nur so könne die Jugend der Welt bei der Stange gehalten werden. Der Teenager-Appeal von Team-Eiskunstlauf lässt sich bezweifeln, aber zumindest hinsichtlich der zahlreichen Snowboard- und Trickskiwettbewerbe haben die Herren der Ringe natürlich Recht. Auch wenn die zumeist älteren Semester selbst wohl am wenigsten wissen, was einen guten Freestyleauftritt in der Halfpipe ausmacht.
Noch ein Nebeneffekt: Weil es immer mehr Wettbewerbe gibt, liest sich der Medaillenspiegel für jedes Land tendenziell immer besser als beim letzten Mal. Aber was sind diese Medaillen eigentlich noch wert? Grossschanze? Normalschanze? Team? Und wer hat die anderen Goldmedaillen gewonnen? Wie verhältnismässig normal klingen die drei alpinen Goldmedaillen von Toni Sailer 1956, wo es heute fünf Chancen dafür gäbe statt drei? Geht sportlichen Leistungen die historische Vergleichbarkeit abhanden, verlieren sie einen wichtigen Teil ihrer epischen Qualität.
Vielleicht wäre weniger also tatsächlich mal mehr.
«Die Welt» stellt die neuen Sportarten bei Olympia in Sotschi vor.